Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wahnsinn, der das Herz zerfrisst

Wahnsinn, der das Herz zerfrisst

Titel: Wahnsinn, der das Herz zerfrisst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
Vom Netzwerk:
liebevollen Weise, und Annabella, die derartige Briefe noch nie erhalten hatte, erstaunte schon der Anfang:
    »Liebster, erster & bester aller Menschen, - Du Schuft, Du hast mir seit drei Wochen nicht geschrieben…«
    Annabella hätte nie gewagt, irgend jemanden mit dieser unbekümmerten Lässigkeit anzureden, und sie konnte sich nicht entscheiden, ob diese Art nun charmant oder unpassend war. Sie bemerkte, daß der abwesende Ausdruck in Byrons Gesicht verschwand, während er Augustas Brief las. Mit einem Mal wirkte er so jung, wie er tatsächlich war, und sie erinnerte sich an ihren Eindruck bei den Glenverbies. Behutsam fragte sie: »Lieber, vermißt du deine Schwester?« Der Blick, den er ihr zuwarf, schien seltsam intensiv zu sein. Er sagte langsam und fast widerwillig: »Manchmal glaube ich, daß ich ohne Augusta nicht glücklich sein kann.«
    Annabella spürte zwar, daß ihr Gatte nicht zufrieden war. Sie ahnte aber nicht, daß er inzwischen ein merkwürdiges Vergnügen daran gefunden hatte zu erkunden, wie weit ihre Leichtgläubigkeit ging. »Mein Großvater mütterlicherseits hat Selbstmord begangen, ein Vetter von mir zündet mit Vorliebe Häuser an, und mein allerwertester Großonkel hatte ein völlig kriminelles Verhältnis zu seinen Ratten.«
     
    Annabella schloß daraus, daß er - ebenso wie Childe Harold und alle seine anderen Helden - ein düsteres Geheimnis mit sich herumtrug. Wollte er ihr etwa mit diesen Geschichten andeuten, daß Wahnsinn in der Familie lag? Als er ihr mitteilte, er hätte die Heldin seiner drei berühmten Gedichte »An Thyrza« über alles geliebt, verführt, und schließlich mit zwei Kindern zurückgelassen, so daß sie sich das Leben nahm, war Annabella entsetzt. Aber sie glaubte ihm.
    Annabella ahnte ihr Leben lang nicht, daß »Thyrza« keine Frau, sondern ein Mann gewesen war, der Chorist Edleston in Cambridge, der sehr früh an einer Lungenentzündung starb.
    Nach dieser »leidenschaftlichen, aber reinen Affäre« (wie er in sein Tagebuch schrieb) erlaubte sich Byron auf einer zweijährigen Reise noch weitere homoerotische Experimente, ließ die Neigung aber nach seiner Rückkehr ganz fallen. Jedenfalls benutzte er die Thyrza-Gedichte, um Annabella genau das vorzuführen, in das sie sich verliebt hatte - einen Byronschen Helden.
    Bereits nach zwei Tagen entschloß Annabella sich, Augusta Leigh einzuladen. Es geschah weniger aus Höflichkeit als aus dem bohrenden Gefühl der Hilflosigkeit heraus, das sie empfand, wenn Byron ihre Flitterwochen als »Sirupmond« bezeichnete, ihr schreckliche Geschichten von seinen vergangenen Untaten erzählte und sie im übrigen halb als Engel, halb als lästigen Störenfried anredete. Annabella hätte sich an ihre Eltern gewandt, wenn es nicht so demütigend gewesen wäre, zuzugeben, daß sie sich vielleicht in der Wahl ihres Gatten geirrt haben könnte. Aus dem gleichen Grund kamen auch ihre eigenen Freundinnen nicht in Frage.
    Hatte Byron nicht einmal gesagt: »Niemand versteht mich so gut wie Augusta?« Und hatten Mrs. Leighs Briefe nicht ausgesprochen freundschaftlich geklungen, so daß Annabella sie in ihren Antworten als ihre Schwester bezeichnete? Augusta Leigh mußte ihr helfen.
     
     
    Meine liebe Schwester,
    Ich wünschte, ich KÖNNTE Euch besuchen! aber ich bin sicher, daß Du die Schwierigkeiten, die eine solche Reise begleiten, verstehen wirst, & daß Du nicht annimmst, der Wunsch oder Wille fehle. Ich bin nicht wenig dankbar für all die Freundlichkeit, die Du zu diesem Thema ausdrückst & hoffe, daß wir uns treffen & bald, irgendwie & irgendwo. Dein netter Brief vom 4ten & B’s haben mich erst diesen Morgen erreicht. Ich erwähnte das aus Angst, Du könntest Dich über meine trödelige Antwort auf den ersten Brief meiner wirklichen Schwester wundern… - ›die arme Gans‹ dankt Dir aus vollem Herzen & hofft, sie verdient ihn mehr, als sie es bis jetzt getan hat… Ich wünschte, die Entfernung wäre nicht so beträchtlich, kurz, ich wünsche eine ganze Menge - & bin in sehr schlechter Laune, wenn ich an all die Schwierigkeiten, die mir in den Weg gelegt werden & die, wie ich fürchte, unüberwindbar sind, denke…
    Ich amüsiere mich mit dem Gedanken, wie B’s Gesichtsausdruck während der Beständigkeit des DURHAM-GELÄUTES
    gewesen sein muß. Ich werde mit ihm zanken, also Adieu, meine liebe Schwester…
     
    Annabella war, gelinde gesagt, verdutzt. Das Ereignis, auf das Augusta zum Schluß anspielte, hatte sie

Weitere Kostenlose Bücher