Wahnsinn, der das Herz zerfrisst
ihr Mund blutig und zerbissen. Erschreckt verglich er sie mit der selbstbewußten, hübschen Miss Milbanke, die er in Melbourne House kennengelernt hatte, und sagte schuldbewußt: »Was für eine Folter habe ich dir verschafft.« Annabella wußte, daß er damit nicht nur die Geburt meinte, und als er sie küßte, glaubte sie, daß sich zum zweitenmal und nun wirklich die Dinge in ihrer Ehe zum Guten gewandt hatten. Elf Tage später entdeckte sie die bestürzende Wahrheit.
Es war nichts Spektakuläres, kein Kuß, keine Umarmung oder etwas noch Eindeutigeres. Annabella, noch immer sehr schwach, wollte sich in die Bibliothek zurückziehen. Als sie eintrat, hielt sie einen Moment in der Tür inne und konnte so Augusta und Byron völlig unbemerkt beobachten. Die beiden saßen zusammen auf einem Sessel, er auf der Lehne, sie mit angezogenen Füßen auf der eigentlichen Sitzfläche. Sie hatte den Kopf zurückgelehnt, und er strich langsam über ihr welliges braunes Haar. Keiner sprach ein Wort. Doch die Harmonie, das vollkommene Vertieftsein ineinander wurde so deutlich, daß Annabella fast aufgeschrien hätte. Plötzlich begannen sich in ihrem Kopf hundert kleine Einzelheiten zusammenzufügen, und sie wußte. Sie mußte blind gewesen sein, auf närrische Weise blind.
Annabella schloß leise die Tür und ging zurück in ihr Schlafzimmer. Von tiefem Schmerz gelähmt, legte sie sich auf ihr Bett und überließ sich apathisch den Gefühlen, die die ungeheuerliche Entdeckung in ihr auslösten.
Sie war schon vorher auf Augusta eifersüchtig gewesen, doch was sie nun erkannt hatte, war etwas völlig anderes. Man hatte sie skrupellos ausgenutzt! Byron hatte sie nur geheiratet, um diese… Wahrheit zu verschleiern. Und Augusta - sie schauderte bei dem Gedanken, wie sehr sie Augusta vertraut, was sie ihr alles erzählt, wie sie sie ins Herz geschlossen hatte.
Annabella hatte einmal in ihrem Leben wirklich geliebt, und der Mann, dem ihre Liebe galt, für den sie alle Hemmungen und Hindernisse ihres so zurückhaltenden Wesens ablegen wollte, hatte sie auf grausame Weise zurückgewiesen. Mehr noch, er hatte sie mißbraucht, geschändet und in den Dienst seiner eigenen perversen Leidenschaften gestellt. Keine Minute länger wollte sie mit diesem Ungeheuer das Leben teilen.
Annabella vergoß keine einzige Träne. Ihr Verstand, der nun endlich wieder frei von Emotionen denken konnte, sagte ihr, daß große praktische Schwierigkeiten auf sie zukamen. Sie wollte klug vorgehen. Ihre Eltern hatten, nun schon zum zweitenmal, eine Einladung nach Seaham geschickt. Beim erstenmal hatte sie gemeinsam mit Byron abgelehnt. Diesmal akzeptierte sie. Sie stellte einen Arzt ein, angeblich wegen Byrons körperlicher Gesundheit, und nahm Augusta das Versprechen ab, so lange zu bleiben, bis jener Dr. Le Mann seine Untersuchungen vor allem in Hinblick auf Byrons Geisteszustand abgeschlossen hatte, und ihr täglich Bericht zu erstatten.
Byrons Idee, das Kind Augusta Ada zu nennen, nahm Annabella begeistert auf. Sie spielte in jeder Hinsicht die vollkommene Ehefrau, da sie nun endlich begriffen hatte, was Byron von ihr erwartete. Lediglich am Tag ihrer Abreise fiel sie etwas aus der Rolle. Sie verabschiedete sich von Byron, der ach so selbstverständlich in Gesellschaft seiner Schwester war. »Wann treffen wir drei wieder zusammen?« fragte er heiter, Shakespeare zitierend. »Im Himmel, wie ich hoffe«, erwiderte sie scharf und ging.
Schon am nächsten Tag bereute sie diesen Lapsus und schrieb ihm von der Zwischenstation ihrer Reise aus einen munteren, liebevollen Brief. Er sollte und würde keinen Verdacht schöpfen, bis sie bei ihren Eltern in Sicherheit war, und Augusta ebenso wenig. Augusta würde wie versprochen jeden Tag ihre falschen Freundschaftsbeteuerungen schicken und damit hoffentlich auch den Beweis, den Annabella brauchte, um sich und ihr Kind zu retten: daß nämlich Augustas Zuneigung zu Ihrem Bruder weit über schwesterliche Liebe hinausging. Am achtzehnten Januar 1816 kam Annabellas letzter freundlicher Brief an ihren Gatten am Picadilly an.
Liebste Ente,
Wir sind hier gut angekommen und wurden in die Küche, statt in das Empfangszimmer gebracht, durch einen Fehler, der angenehm genug für hungrige Leute war… Wenn ich nicht immer nach B Ausschau halten würde, wäre ich sehr viel bereiter für die Landluft. Miss findet ihre Versorgung verbessert und wird deswegen dicker. Es ist sehr gut, daß sie die Schmeicheleien um sie
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