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Wahnsinn, der das Herz zerfrisst

Wahnsinn, der das Herz zerfrisst

Titel: Wahnsinn, der das Herz zerfrisst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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Clermont, Annabellas ehemalige Kinderfrau, im Nebenzimmer schlief.
    »Wie du willst«, sagte sie freundlich und glitt vorsichtig zwischen die Laken.
    Annabella rührte sich erst lange Zeit nicht. In ihr kämpften Zuneigung und Eifersucht. Schließlich legte sie ihren Kopf an Augustas Schulter und sagte mit erstickter Stimme: »Ich wünschte, meine Mutter wäre gekommen.« Judith Milbanke hätte um nichts in der Welt ihr einziges, geliebtes und verwöhntes Kind zu dieser Zeit im Stich gelassen, wäre sie nicht selbst durch schwere Krankheit ans Bett gefesselt gewesen.
    »Ich weiß.« Augustas Stimme klang seltsam verloren. »Ich habe meine Mutter nie gekannt, aber bei der Geburt jedes Kindes rufe ich nach ihr. Ist das nicht merkwürdig?« Annabella fühlte sich verzehrt vor Scham über die Schwäche, die sie zeigte, als sie jetzt in Tränen ausbrach und sich an Augusta festhielt. Keiner ihrer anderen Freundinnen gegenüber hatte sie sich je so gehenlassen. Und eine innere Stimme sagte ihr, daß sie sich unter anderen Umständen, in einer anderen Zeit, nie Augusta Leigh als Freundin ausgesucht hätte. Wenn sie genau darüber nachdachte, hatte Augusta sogar nichts Gemeinsames mit ihren übrigen Freundinnen.
    Aber sie war eben da, warm und tröstlich, die einzige, die alle Umstände von Annabellas Ehe kannte und verstand, die einzige, der sie vertrauen, die ihr Rat und Hilfe geben konnte. Und das alles überwog letztendlich Annabellas Eifersucht, daß Byron ihr seine Schwester so offensichtlich vorzog. Annabella schmiegte sich an Augusta und schlief schließlich, getröstet und beruhigt, in ihren Armen ein.
     
    Annabellas Wehen setzten am frühen Morgen des zehnten Dezember 1815 ein und dauerten den ganzen Tag, Im Haus am Picadilly herrschte ein ständiges Kommen und Gehen, doch die Hebamme hatte schon ziemlich bald die meisten von Annabellas Bediensteten in das Vorzimmer verbannt und zu bloßen Handlangern degradiert. Die Arme in die Hüften gestemmt, hatte sie die grünliche Gesichtsfarbe der jungen Zofe abschätzig gemustert und erklärt: »Sie sind hier ungefähr ebenso nützlich wie ein fiebriger Maikäfer. Holen Sie heißes Wasser, das ist das einzige, was Sie im Augenblick tun können. Sie«, ein Kopfnicken zu Mrs. Clermont, »können bleiben, Sie sehen so aus, als ob Sie nicht sofort in Ohnmacht fallen würden.«
     
    »Ich habe geholfen, Lady Byron mit zur Welt zu bringen«, sagte Mrs. Clermont. »Auch gut«, erwiderte die Hebamme ungerührt. Sie war eine große, schwere Frau mit dem Gesicht eines Dragoners, die man selbstverständlich schon seit mehreren Tagen hier am Picadilly einquartiert hatte. »Wer von den Anwesenden versteht noch etwas vom Geschäft?« Ihr Blick fiel auf Augusta. »Ich glaube nicht, daß das Ihr erstes Kind ist, Mrs.
    Leigh.« Augusta schüttelte den Kopf. »Mein fünftes.« Annabella rief schwach nach ihr. »Sehr gut. Aber ihr übrigen verschwindet nach draußen. Ein bißchen plötzlich, wenn ich bitten darf!«
    Der Tag blieb für Augusta in entsetzlicher Unruhe in Erinnerung. Annabella schrie, jammerte und flehte, klammerte sich abwechselnd an Mrs. Clermont und an Augusta fest und war zwischendurch nicht von der Überzeugung abzubringen, daß sie sterben müsse. Diese Gefahr bestand keinen Augenblick, doch es war die schwerste Geburt, die Augusta jemals miterlebt hatte.
    Kein einziges Mal hatte es um sie selbst so schlimm gestanden, Annabella rief nach ihrer Mutter, nach Mrs. Clermont, nach Augusta. »Verlaß mich nicht«, bettelte sie schluchzend und schob die Hand der Hebamme fort, »verlaß mich nicht.«
    Am späten Abend gebar sie eine Tochter und schlief fast sofort ein, völlig ausgelaugt und erschöpft. Augusta tastete sich müde das Treppengeländer hinab, um Byron die Nachricht zu überbringen. Er wartete mit Hobhouse in der Bibliothek, offensichtlich äußerst angespannt und nervös. Augusta entrang sich ein kleines Lächeln, als sie ihn erblickte. Er stürzte auf sie zu und fragte rauh: »Es ist doch nicht totgeboren, oder?« Damit hatte er sich nämlich in der Erinnerung, wie er die letzten Monate mit Annabella umgegangen war, den ganzen Tag herumgeschlagen, Augusta verneinte stumm und setzte sich. »Eine Tochter, Byron, eine völlig gesunde und normale Tochter.«
    Hobhouse stammelte seine Glückwünsche. Augusta ließ sich von ihm ein Glas Whiskey reichen, trank einen Schluck und begleitete ihren Bruder dann zurück in das Zimmer der jungen Wöchnerin. Annabella war wach,

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