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Wahnsinn

Titel: Wahnsinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Ketchum
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wohl hinführen?, dachte er dabei. Er fühlte sich sehr stark zu dieser Frau hingezogen. Aus der Nähe hatte er ihre wunderschönen bernsteinfarbenen und grünen Augen gesehen, die cremefarbene, weiche Haut. Sie hatte einen üppigen, sauberen und würzigen, aber keinen süßen oder blumigen Duft verströmt.
    Zu seiner Freude schien sie ein bisschen schüchtern zu sein – offenbar hatte er sie verwirrt und irgendwie aus dem Konzept gebracht. Wahrscheinlich war es das Beste gewesen, einfach hinüberzugehen. Er hatte gar nicht groß darüber nachgedacht. Doch er hatte das seltsame Gefühl, dass er es sich nicht leisten konnte, noch länger zu warten. Dass er zuschnappen musste, bevor sie ihm durch die Lappen ging.
    Er fragte sich, weshalb ihm das überhaupt so wichtig war.
    Er fragte sich, ob er es fertigbrachte, dass sie ihre Rückkehr nach Boston noch ein, zwei Tage aufschob.
    Eine interessante Herausforderung.
    Die Band spielte eine ganz annehmbare Version von Bruce Springsteens »Hungry Heart«, aber er hatte nicht die Zeit zuzuhören. Es gab viel zu tun.
    Morgen Abend würde er sich freinehmen.
    Wenn er Glück hatte vielleicht die nächsten paar Abende auch.
    Er fragte sich, ob Lydia McCloud wusste, dass ihr Leben sich schon ein kleines bisschen verändert hatte.
    Weil sie ihm begegnet war.

    Lydia drehte sich zu Cindy um und lächelte. Sie kam sich ein wenig dämlich vor.
    Jetzt geht’s wieder los, dachte sie. Was auch immer dabei herauskommt, ich bin wieder im Spiel.

6
Fernbeziehung
    Plymouth, New Hampshire, und Boston, Massachusetts Juni 1985 bis September 1986
    Er hatte ein Restaurant zu führen, und sie hatte einen gut bezahlten Job als Krankenschwester am Massachusetts General Hospital in Boston.
    Ihre Beziehung fand praktisch am Telefon statt.
    So lernte sie ihn vor allem während der langen Telefongespräche kennen, die sie spätabends und schon schläfrig mit ihm führte. Die Anrufe, in denen sie ihren Tagesablauf durchgingen, dauerten häufig eine Stunde oder länger. Sie redeten über ihre Arbeit und seine. Über ihre Familie und Freunde und seine, obwohl sie keine gemeinsamen Bekannten hatten.
    Nach und nach erzählte sie ihm von ihrem Leben mit Jim – vielmehr vom Nichtvorhandensein eines Lebens – und manches, aber nicht alles, über ihren Vater. Er war sehr verständnisvoll. Er erzählte ihr von den Schwierigkeiten, in die er als Junge geraten war. Er hatte die Schule geschwänzt und geklaut. Es kam ihr vor, als fühlte er sich deshalb immer noch schuldig, und sie fragte sich, warum er sich diese Dinge nach so langer Zeit immer noch zum Vorwurf machte.
    Er zeigte sowohl an ihrer finanziellen als auch persönlichen Situation große Anteilnahme. Sie hatte keinen Cent von Jim angenommen, und in Boston war mit dem Gehalt einer examinierten Krankenschwester nur schwer über die Runden zu kommen. Er gab ihr Anlagetipps, mit denen sie ihr Einkommen aufbesserte. Sie redeten über Filme, Bücher, und Fernsehsendungen. Er war etwas zurückhaltend, wenn es darum ging, eine eigene Meinung zu äußern, so als hätte er Angst, sie dadurch zu verärgern. Wenn er jedoch eigene Standpunkte kundtat, dann auf eine kluge und irgendwie auch lustige Art und Weise. Er brachte sie zum Lachen.
    Als sie herausfanden, dass sie ungefähr zur selben Zeit dieselbe Schule besucht hatten und sich dabei wahrscheinlich sogar schon mal über den Weg gelaufen waren, fand sie das erstaunlich und gleichzeitig erfreulich.
    Manchmal flog er übers Wochenende nach Boston, was nicht ganz einfach für ihn war, weil im Restaurant gerade an diesen Tagen am meisten los war. Aber es waren nun mal auch die einzigen Tage, an denen sie frei hatte. Hin und wieder fuhr sie auch nach Plymouth.
    Im Bett war er sanft, aufmerksam und geduldig.
    Sie mochte, wie er sich anfühlte, wie er roch.
    Ihr fiel auf, dass er zwar viele Geschäftsbekanntschaften, aber anscheinend nur wenige Freunde hatte. Jedenfalls keine engen Freunde. Sie schrieb das seinem Arbeitspensum und seinem zurückhaltenden Wesen zu. Hin und wieder aßen sie mit seinen Eltern zu Abend. Mit seinem Vater und dessen ruhiger Art wurde sie auf Anhieb warm. Seine Mutter dagegen blieb reserviert, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Die Frau war offensichtlich ein zähes altes Frauenzimmer – sie behandelte einen schweren Fall von Arthritis mit nichts anderem als einer gelegentlichen Paracetamol, was Lydia durchaus bewunderte. Trotzdem kam ihr Ruth ruppig und nicht im Geringsten liebenswert

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