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Wahnsinns Liebe

Wahnsinns Liebe

Titel: Wahnsinns Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lea Singer
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nicht bei allen Männern so? Hier, jedenfalls … Bei meinem ist es doch auch nicht anders. Diese Aufgabenteilung ist doch gang und gäbe.«
    Gerstl antwortet nicht. Er starrt nur traurig diese Frau an, die wieder erloschen ist. Warum hat er den Augenblick nicht genutzt, als sie leuchtete?
    Mit zusammengepreßten Lippen arbeitet er weiter.
    Es ist früher Abend, das Sechsuhrläuten dringt herein, als Schönberg die Tür aufmacht, Gerstl zunickt und sich erkundigt, was es zum Abendessen gebe. Es sei noch so gar nichts zu riechen in der Wohnung.
    Mathilde steht auf. »Wie weit sind wir?«
    »Fast fertig«, sagt Gerstl.
    Sie tritt zu ihm vor das Bild und deutet auf Trudis Gesicht.
    »Das sind Arnolds Augen. Ist mir bisher nie aufgefallen.«
    »Mir schon«, sagt Gerstl. »Und es sind nicht nur die Augen.«
    An diesem Abend verkündet Mathilde ihrem Mann, sie werde nicht mitfahren an den Tegernsee. »Für dich ist es besser, wenn du deine Ruhe hast. Und für mich ist es besser hier.«

    |93| Es riecht nach Kindheit. Nach den ersten Johannisbeeren und Stachelbeeren an den Sträuchern, nach Levkojen und blühendem Gras, nach den modrigen Holzveranden und dem Gummi der Wasserschläuche, nach den Tomatenstauden, dem Rost der Schubkarren, nach Goldregen und Reseden. Mathilde sitzt mit geschlossenen Augen da, als sie durch Döbling fahren.
    Er hat einen Fiaker gemietet, der sie bis zur Zahnradbahnstation in Nußdorf fährt. In der Stadt unten hockt die Hitze in den schmalsten Gassen, keiner kann sie verscheuchen. Doch droben, auf dem Kahlenberg, ist die Luft auch an solchen Tagen frisch. »Wie Feingespritzter«, sagt Loos immer – sein Lieblingsgetränk: Champagner mit etwas Soda. Um so kostbare Luft zu atmen, nimmt jeder gerne auf sich, daß die Zahnradbahn ruckelt und unterwegs durch die offenen Fenster nicht so sehr der Duft von Äpfeln und Birnen in die Nase steigt, die schon schwer an den niedrigen Bäumen hängen, sondern der Rußgestank der Lokomotive. Mathilde sitzt auf der Holzbank in der Bahn noch immer, als lehnte sie im Fiakerpolster, als umwehte sie der Kindheitsgeruch, und hält die Lider geschlossen.
    »Ich wollte hier immer schon mal zum Kirchweihfest rauf, am Georgstag«, sagt sie. »Aber Arnold sagt, der Anblick dieser Schweinsköpfe versaue ihm für Tage das Hirn.«
    »Er hat recht«, sagt Gerstl. »An den Sonntagen und den Feiertagen sind hier Leute unterwegs – wenn ich die gesehen habe, müßte ich mich hinterher innerlich entfetten. Um diesen ganzen Bürgerschmer wieder rauszukriegen.«
    |94| Mathilde sieht ihn an. »Ganz schön hochnäsig seid ihr. Wer sagt denn, daß es anderen nicht vor Leuten wie euch genauso graust?«
    »Denen«, sagt Gerstl, »lassen Ihr Mann und ich durchaus die Freiheit, uns zu meiden.«
    »Wie wunderbar Ihr euch verbrüdert«, sagt Mathilde und alles, was sich an ihr gerade noch dem Augenblick hingegeben hatte, zieht sich zurück.
    Die nächsten zwanzig Minuten schweigen beide. Erst als Gerstl der Schwangeren an der Bergstation beim Aussteigen hilft, sagt er: »Lassen Sie uns doch einfach den Tag heute zum Georgstag ernennen – unserem privaten Georgstag.« Da lächelt sie vorsichtig.
    Von der Anhöhe des Hotels Kahlenberg geht der Blick weit über die Stadt und gibt dem Menschen auf der Höhe das Gefühl, Flügel zu besitzen und mühelos kreisen zu können über den Steinquadern, die dort unten liegen.
    Im hohen lichten Restaurant des Hotels spürt der Gast, daß der Inhaber des Hauses nach Höherem strebt. Es plätschern die Wandbrunnen, blühen Stoffblumen und schimmern die Porzellannippes, und es ist viel Platz, zuviel Platz. Denn die meisten Wiener ziehen es vor, auf den Bänken vom Waldschank im Freien für das, was hier ein Achtel Veltliner kostet, zwei Paar Würste und einen Krug Bier zu vertilgen. Wie schutzsuchend sitzen Gerstl und Mathilde nah nebeneinander und doch so, als wären sie einander fremd. Gerstl bestellt für beide Loos’ geliebten Feingespritzten. »Mit echtem französischen Champagner«, sagt er der Bedienung.
    »Sie haben wohl ein Bild verkauft?« fragt Mathilde.
    »Ich werde wohl nie eins verkaufen«, sagt er. »Und |95| das ist gut so, denn van Gogh soll nicht umsonst durch mich durchgegangen sein.«
    Sie sieht ihn fragend an. »Was heißt durchgegangen?«
    »Das war nur ein Augenblick, ein kurzer Augenblick im Treppenhaus meiner Eltern vor fast fünfzehn Jahren. Ich saß auf der Treppe und heulte, weil sie mich in der Schule verdroschen hatten.

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