Wahnsinns Liebe
Ganze mal etwas objektiver betrachten. Frauen essen und trinken bekanntlich weniger als wir Männer, die Ärzte behaupten, sie atmen auch weniger. Und sie vertragen es besser, wenn ihr Schlaf verkürzt wird. Kein Mann würde Nachtwache am Bett seines Kinds halten, oder?«
Gerstl schüttet die Hälfte des Glasinhalts in sich hinein. »Was wollen Sie damit sagen?« keucht er.
Lefler sitzt ruhig da und schaut den Schüler mitleidig an. »Ich will damit sagen, daß die Bedürfnislosigkeit, die Leidensbereitschaft den Frauen angeboren ist. Sie |169| sind dazu gemacht, sich aufzuopfern. Die Arbeitsteilung von Mann und Frau ist naturgegeben, und das Ehepaar Schönberg …«
Er sieht, wie Gerstls Schultern sich anspannen, wie sein Gesicht rot anläuft, und erhebt sich. Langsam zieht er seine Handschuhe an, dann seinen Mantel, ordnet den Pelzkragen, setzt seinen Hut auf, nimmt seinen Stock und geht zur Tür.
»Übrigens«, sagt er, die Klinke in der Hand, ohne sich umzuwenden, »ich bin eigentlich gekommen, um Ihnen mitzuteilen, daß Ihnen ab sofort das Recht auf ein eigenes Atelier in der Akademie entzogen wird.«
Es wäre makellos, dieses Verandazimmer. So wie es jeder erwartet vom Chef der Wiener Werkstätten, dem noch die vollkommene Gestaltung eines Toilettenzugs ein ernsthaftes Anliegen ist. Der Raum benimmt sich auffallend verhalten, was den Betrachter nötigt, seine Details zu bewundern. Die handgeschmiedeten Messingklinken und -scharniere, das Profil der Türleisten, die Textur der Wandbespannung, die Perfektion der Verfugungen, die Maserung des Parketts. Durch die hohen Flügeltüren fällt der Blick in den Garten, samtig grün wie das Futter einer Schmuckschatulle. Doch es stört etwas in diesem Zimmer: In einer Ecke liegen unappetitliche Überreste, die ausschauen wie abgenagte Knochen. Reglos und satt dösen auf den Baumstümpfen davor, aufgewickelt zu prächtig gemusterten Kabelrollen, exotische Schlangen – Fritz Waerndorfers Haustiere.
|170| Das Terrarium füllt den Raum zum größten Teil. Die Gäste stehen gezwungenermaßen eng ringsherum. Und strengen sich an, es trotzdem zu ignorieren, denn sie wollen sich den Appetit aufs Essen bewahren.
»Warum hältst du dir diese Viecher?«
Waerndorfer lächelt. »Ich lerne von ihnen.«
Altenberg stiert in das Terrarium. »Aber wir alle hausen doch in einer einzigen großen Schlangengrube. Warum brauchst du da noch eine private?«
»Ach, Peter, der Vergleich ist wirklich unter deinem Niveau. Das hier sind doch aufrichtige und berechenbare Wesen.«
Beide schauen versonnen auf die Kabelrollen. Bis Altenberg aufseufzt. »Du hast ja recht …« – er konzentriert sich auf die Überreste in der Ecke – »wenn du lieber den Schlangen beim Fressen zuschaust als dir das mörderische Gewäsch von Leuten anzuhören, die nur zu feige sind, um zum Küchenmesser zu greifen. Dagegen hat das Töten etwas erfrischend Echtes.« Er sieht den Hausherrn an. »Hast du mitgekriegt, daß er draufgegangen ist bei dem Duell in der Freudenau?«
Waerndorfer schreckt auf, sein Rücken spannt sich. »Was ist draufgegangen?«
Altenberg hebt die Stimme. »Sag mal, bist du jetzt auch taub? Ich gebe es ja zu, das mit den Schlangen ist eine mehrmals verdaute Symbolik. Aber eins sage ich dir, und das ist wirklich brandneue Symbolik: Wir hausen hier in einer Stadt der Schwerhörigen. Alle taub. Loos auf beiden Ohren, Alma Mahler auf einem, Moll auf dem anderen, Hevesi auf dem …«
»Was redest du da«, sagt Waerndorfer. »Ich – ich höre alles.«
»– alles, was du hören willst«, sagt Altenberg. »Das |171| ist die gefährlichste Art von Taubheit.« Er spürt Waerndorfers Ungeduld. »Also gut:
Er
ist tot, der junge Kerl, mit nicht mal fünfundzwanzig. Du weißt, dieser wilde Hund, den du für deine Werkstätten gewinnen wolltest. Tot. Totgeschossen auf der Wiese.«
Waerndorfers Blick tastet die Schlangen ab. »Wegen nichts und wieder nichts?«
»Nein, wegen einer Frau. Wie sagte der meschuggene Weininger? ›Liebe ist Mord‹.« Altenberg beobachtet genau, wie sich die Körperhaltung Waerndorfers verändert, wie er sich mit den Armen verschließt. »Mein Gott«, kommt es leise, »ihr Mann hätte doch wegschauen können.«
»Eine bewährte Methode, das weiß keiner besser als du.« Altenberg spricht lauter, als dieser Satz erlaubt. Trotzdem scheint ihn sein Gastgeber zu überhören. »Außerdem«, redet Waerndorfer weiter, »sind Duelle verboten und zutiefst
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