Wahnsinns Liebe
mehr.«
Gerstl baut sich wie ein Befehlshaber vor den Journalisten auf, den Kopf zurückgelegt. »Ja, ja, ich ahne, was Sie schreiben werden: ›Abschied eines Mannes, der unter Wiens Bürgermeister Dr. Lueger zum Genie wurde und es nicht zu danken wußte.‹ Und dann werden Sie in Begeisterung darüber ausbrechen, daß dieser beschnittene Wurm endlich das Pult freimacht für einen würdigen Antisemiten. Ja, ich wittre den Unrat.« Gerstls Ton lechzt nach Schlägerei. Doch die Journalisten verziehen nur abschätzig den Mund. »Halten Sie das Maul«, sagt einer, ohne Gerstl dabei anzuschauen. |186| »Die Leitung der Hofoper gebührt einem geistig gesunden Mann und nicht einem überheblichen Krüppel, und wenn Sie …«
»Ach laß, das lohnt sich nicht«, murmelt der neben ihm. »Mach dir doch nicht an diesem Wahnsinnigen die Finger schmutzig …«
Sie kennen ihn alle vom Sehen, diesen Typen, der in jedes Konzert von Mahler und Schönberg rennt, sich mit jedem anlegt, der dort pfeift oder buht, und der angeblich Künstler ist, aber nichts verkauft – nein, für den packt keiner die Fäuste aus.
»Besudeln Sie nicht noch die letzten Minuten Mahlers hier mit Ihrer Anwesenheit.« Gerstls Stimme übertönt mühelos den Lärm im Bahnhof. »Verschwinden Sie! Verschwinden Sie!«
Nur der Jüngste, der am Rand der Gruppe steht, lächelt unbedarft. »Können Sie mir Ihren Namen und Beruf verraten? In welcher Weise sind Sie Mahler verbunden? Wie lange kennen …?«
Gerstls Gesicht verengt sich, sein leichtes Schielen verstärkt sich.
»Ich bin nicht hier, um Ihren neugierigen Schlund zu stopfen, ich bin hier, um ein Genie zu verabschieden, das für diese Stadt viel zu schade ist. Und für ihre Presseschmierer erst recht.«
Webern ist neben Gerstl getreten. »Meine Herren …« Er rückt seine Fliege zurecht, reckt sich und stellt sich leicht auf die Zehenspitzen. »Sie sind ja sicher an korrekter Information interessiert, richtig? Unter denen, die sich hier zu Ehren von Mahlers Abschied eingefunden haben, sind die Künstler Klimt, Moser, Hoffmann, Roller und Moll, der Architekt Loos, die Schriftsteller Polgar und Schnitzler, die |187| Schauspieler Kainz und Sonnenthal – kommen Sie mit? –, die Musiker des Rosé-Quartetts – die Namen sind hoffentlich bekannt –, der Dirigent Bruno Walter und die Sängerin Marie Gutheil-Schoder, die Journalisten Bertha Zuckerkandl und Paul Stefan, die Komponisten Zemlinsky, Pfitzner, Schönberg, Krüger, Jalowetz, Berg und ich – Dr. Anton Webern –, und organisiert habe das Ganze ich. Wir alle betrachten uns als enge Freunde und Weggefährten des scheidenden Operndirektors. Und nun lassen Sie uns tun, was wir müssen«, sagt er. Er greift Gerstl, der einen Kopf größer ist, am Arm. Gerstl schüttelt die Hand ab und geht, ohne Webern zu beachten, schneller als der zu den anderen zurück.
Als die Türen der Waggons zugeschlagen werden und Mahlers gekerbtes Gesicht an der Scheibe sichtbar wird, als wäre es von innen hingeklebt, fängt Schönberg an zu schluchzen. Mahler starrt heraus, Webern und Schönberg, die sich einen Logenplatz direkt gegenüber dem Fenster gesichert haben, starren zurück. Und als der Zug rußend aus dem Bahnhof fährt, fallen die Blicke der Menschen am Bahnsteig in den Gleisschacht wie in ein offenes Grab. Keiner berührt den anderen, keiner sieht den anderen an. Stumm gehen sie in kleinen verholzten Gruppen zum Hauptportal, als wären sie einander alle fremd. Dort bleiben die Männer um Schönberg stehen und schauen ratlos in das Schneetreiben hinaus.
»Gehen wir«, sagt Webern, den Blick klamm ins Freie gerichtet.
»Ich habe meine besten Schuhe an«, sagt Loos.
»Sollen wir dich tragen?« fragt Stefan. »Oder nimmst du mit der Straßenbahn vorlieb?«
|188| Alle setzen sich in Bewegung zur Haltestelle, nur Gerstl bleibt zurück. Berg dreht sich um. »Kommen Sie nicht mit?«
»Nein, ich habe kein Bedürfnis, meinen Abschiedsschmerz zu betäuben.« Gerstl wendet sich ab, in die andere Richtung. Mit großen Schritten zieht er los. Er findet es gut, daß der eisige Schnee ihm weh tut. Ein gutes Gefühl, mehr zu leiden als die anderen. Mathilde hat recht gehabt, als sie prophezeite, Schönberg und seine Freunde würden bestimmt überprüfen wollen, ob ihr Kummer in Alkohol löslich sei.
Während sich die übrigen Mahler-Hinterbliebenen in der Tabakspfeife bereits einen Rostbraten bestellen, ist Gerstl auf dem Weg durch den nachtdunklen Dezembernachmittag.
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