Wahnsinns Liebe
Gerstl versteht es trotzdem.
»Daß du nicht willst. Ganz einfach.«
Mathilde läßt Wasser in die hohlen Hände laufen, wäscht sich flüchtig und zieht in der Ecke ihre Kleider an. Sie hebt den Blick nicht. Alleine schlüpft sie in den Mantel. Die Tränen laufen ihr übers Gesicht wie Dauerregen. Es schmerzt hinter den Ohren, es zieht ihr Gesicht auseinander zur Grimasse, als schrie sie, auch wenn nichts zu hören ist, aber sie kann den Tränenfluß nicht abstellen.
Als sie an der Tür steht, ist er bei ihr. Er reißt sie herum und küßt sie, daß es schmerzt. Beißt und schlingt und saugt.
|183| Sie liegt bewegungslos in seinem Arm, bis er befriedigt aufatmend von ihr läßt.
In der Straßenbahn sitzt außer ihr nur eine alte Frau. Mathilde sieht sie an und sieht sich selber. Es gelingt ihr nicht, den Blick von der Frau zu lösen, die da mit stumpfen Augen in einem stumpfen Gesicht hockt, als wäre sie nur noch eine ausgestopfte Attrappe.
Als die Bahn quietschend bremst und die andere vornüber fällt, hilft Mathilde ihr hoch. »Geht es? Haben Sie sich weh getan?«
Die andere schaut sie an, aber ihr Blick greift nicht. »Nein, nein, ich bin ja keine alte Frau, wissen Sie, ich bin erst sechsundvierzig«, sagt sie. »Aber eigentlich bin ich achtzig oder neunzig. Es kommt drauf an, was einem passiert im Leben, verstehen Sie? Warten Sie mal, bis Sie sechsundvierzig sind.«
Dann schweigt sie, bis Mathilde aussteigt. Als sie zu Hause ankommt, sitzt Schönberg am Schreibtisch. »Wo warst du?« ruft er, ohne aufzustehen, als er ihren Schritt im Flur hört.
»Bei Gerstl.«
»Und was gibt es heute abend? Es riecht nach nichts.«
»Es gibt Pirogen«, ruft Mathilde zurück.
»Welche?«
»Die mit Kartoffeln und Zwiebeln gefüllten. Und die sind längst fertig. Du magst sie doch lieber, wenn sie aufgewärmt sind.«
»Trotzdem, daß man so gar nichts riecht«, kommt es vom Schreibtisch.
Mathilde schweigt und läßt das Schmalz heiß werden, um die Pirogen aufzubacken. Als der Nudelteig knusprig ist, steht er in der Küche.
|184| »Meine Zeit wird erst kommen«, sagt er. »Ich weiß es. Sie wird kommen.«
»Die Pirogen wären jetzt fertig«, sagt sie.
Keiner weiß, wie die Journalisten von der Aktion Wind bekommen haben. Alle, die eingeweiht sind, haben doch dichtgehalten. Es sollte völlig ungestört vor sich gehen. Gedruckte Karten hatten sie verschickt, in geschlossenen Kuverts. Nur Gleichgesinnte seien zu verständigen, das war unmißverständlich formuliert. Eigentlich kann es kein Leck gegeben haben.
Doch die ungebetenen Beobachter stehen bereits voll gerüstet am Wiener Westbahnhof, als die anderen allmählich einziehen, in größeren und kleineren Gruppen, alle gebeugt, alle in Grau oder Schwarz. Die elektrische Beleuchtung färbt ihre bleichen Gesichter grünlich. Fast ohne ein Wort zu verlieren, stellen sie sich am Rand des Bahnsteigs auf, an dem der Zug nach Paris abfahren soll. Hundert, zweihundert Leute, von drei, vier Ausnahmen abgesehen nur Männer. Starr und todernst.
»Nicht zu retten«, sagt einer von den Journalisten und grinst. »Da verläßt dieser besessene Gnom endlich die Stadt, und sie benehmen sich, als ginge die Welt unter.«
»Mein Gott.« Der neben ihm zuckt die Achseln.
»Halt krank und degeneriert wie diese ganze verjudete Musikszene. Sind wir froh, daß in der Oper ab jetzt ein andrer Wind bläst und diese krummnasigen Stinker rausgefegt werden.«
|185| Wenige Minuten später durchläuft ein Raunen das Spalier der Trauergäste, als vier Menschen durch die kalte hohe Halle kommen und sich dem Bahnsteig nähern.
Vorneweg Alma, ein stolzierender Vogel Strauß in aufgeplustertem Gefieder. Hinter ihr, als folgte er seinem Schatten, Gustav Mahler, dahinter das englische Kindermädchen, das die Hand der kleinen Tochter umklammert. Die Linie der Wartenden gerinnt sofort zum Klumpen um die vier, wer irgendwie an sie herankommt, berührt sie wie wunderwirkende Idole. Nur Gerstl löst sich aus dem Pulk und geht hinüber zum Lager der Unerwünschten. Bereits sein Gang und seine Haltung wirken ungemütlich. Webern bekommt es mit. Er zieht Wellesz am Ärmel. »Du, schau mal. Der schlägt gleich zu, der Idiot«, sagt er. »Wir hätten ihn nicht mitnehmen sollen. Es war eine Dummheit, ausgerechnet diesen Gerstl …«
»Ach was«, sagt Wellesz. »Ist doch egal, was der anstellt. Wenn diese Mistkerle morgen wieder ihre Jauche über Mahler und uns kippen, liest es Mahler ja gar nicht
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