Wahr
Erkerfenster auf und brüllt einen Spruch hinaus, aber die junge Studentin aus dem Norden lässt sich davon nicht einschüchtern, sie genießt die Musik, löst ihre Haare und tanzt so ausgelassen vor dem alten Holzherd, dass die letzten Haarklemmen zu Boden fallen wie erschrockene Heuschrecken.
All das verschweige ich, damit die Frau und der Mann mich nicht für leichtfüßig halten. Dabei würden sie meine Nächte keineswegs missbilligen. Auch sie entkorken Rotwein, und in ihrem Wohnzimmer finden weitaus öfter Zusammenkünfte und laute Gespräche statt. Aber davon weiß ich noch nichts.
»Zu Hause in Kuhmo habe ich als Fünfzehnjährige auf die Zwillinge unserer Nachbarn aufgepasst, wenn alle anderen draußen waren und Heu gemacht haben. Und ich habe für das ganze Dorf Rindersuppe gekocht.«
Elsa nickt, ich habe den Eindruck, etwas Falsches gesagt zu haben. »Du wirst hier keine Großküche leiten müssen. Mein Mann kommt und geht, wie er will, und auch du bist nach deiner Arbeit völlig frei.«
Ich lasse mir nichts anmerken. Wann ist Rindersuppe aus der Mode gekommen? Ich schaue verstohlen zum Mann. Kenne ich ihn irgendwoher? Doch, ich habe sein Foto in der Zeitung gesehen. Mir fällt sogar ein, dass ich mal in einer Ausstellung an seinen sonderbaren Bildern vorbeigegangen bin, die mir zu neuartig waren. Ich mag ältere Kunst, deutliche Umrisse und klar erkennbare Gesichter, die so bleiben, wie sie sind, nicht in verschiedene Facetten zerfallen.
Elsa trinkt ihren Kaffee aus. Ich bin bereits verliebt in sie. In Elsa verliebe ich mich als Erstes. Sie hat dicke braune Haare und Augenbrauen, die wie kleine buschige Raupen aussehen. Ihr Lächeln ist lustvoll, als würde sie ihre Umwelt unermüdlich zum gemeinsamen Spiel einladen, als würde sie – ganz unbewusst – all ihren Gesprächspartnern vorschlagen: Komm, wir gehen in die Speisekammer, nehmen uns ein großes Stück Marmorkuchen und veranstalten ein heimliches Fest.
Ich sehe sofort, dass sie eine Person ist, mit der man noch eine vierte Tasse Kaffee trinkt, mit der man an regnerischen Abenden einen Riesenbrötchenteig verbackt oder sich auf der Saunaveranda zwischen zwei Gängen abkühlt. Die vorschlägt, nochmal ins Wasser zu springen und ein Wettschwimmen auf die andere Seite der Bucht zu machen. Nach der Sauna kämmt sie sich im Kerzenlicht die Haare, schaut in den alten trüben Spiegel, flicht sich und der anderen Zöpfe. Aber in diesen Jahren verbirgt Elsa sich hinter Sachlichkeit. Sie macht Karriere, spricht in Hörsälen und stellt ihre Thesen vor, fasst Schriften ab und schreibt spätabends Artikel für internationale Fachzeitschriften.
In diesen Jahren ist Elsa beherrscht. Sie ist zuallererst erwachsen, resolut, undurchdringlich. Sie denkt, eine Frau müsse bestimmte Dinge auch vor sich selbst verbergen, um glaubwürdig zu sein. Später gewinnt sie die Verspieltheit wieder zurück. Zu ihrem vierzigsten Geburtstag tanzt sie auf dem Tisch. Zum Fünfzigsten bastelt sie einen Papp-Freud und einen Papp-Jung und setzt sie mit an die Tafel. An ihrem Sechzigsten liegt sie kichernd auf dem Fußboden. Aber in diesen Jahren ist sie sachlich. Sie ist in erster Linie Wissenschaftlerin, danach Mutter und dann Ehefrau. Tief drinnen, in irgendwelchen versteckten Schichten des Selbst, verbirgt sie die junge Frau, die über die ganze Bucht schwimmt, und das Mädchen, das aus Freude über einen Ski-Pokal einen Topf Blaubeersuppe über sich ausgoss. Aber ich kann diese Seiten trotz ihres eifrigen Versteckspiels sehen, und ich bin Elsa sofort verfallen.
Eins weiß ich noch nicht, jetzt, da ich ihr und ihrem Mann gegenübersitze. Jetzt, da der Sommer hinter den Fenstern heranzieht und drinnen das Geschirr klirrt – nämlich dass ich ein Mensch sein werde, den Elsa hasst. Oder wenn nicht hasst, so doch zumindest verachtet.
Doch jetzt ist sie dabei, ihre Entscheidung zu treffen, und ich bin die Person ihrer Wahl. Sie zögert kurz, möchte die Angelegenheit noch unter vier Augen mit ihrem Mann besprechen, wägt zwischen mir und dem Mädchen ab, das vor mir dagewesen ist, eine etwas Verhärmte mit Erfahrung in einer siebenköpfigen Familie. Ich bin unerfahrener, aber Elsa findet mich sympathischer, das kann sie nicht ignorieren. Die Verhärmte erinnert sie an ein grobes Weib mit Nudelholz, sie würde die Stelle lieber mir geben.
Wie um ihre Tendenz zu verdeutlichen, setzt sie mir das Mädchen auf den Schoß. Ella wirkt perplex und neugierig und unbeholfen, wie
Weitere Kostenlose Bücher