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Wahr

Wahr

Titel: Wahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Riikka Pulkkinen
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alle, die erst vor kurzer Zeit in diese Welt geworfen wurden. Sie ist warm, schwer, etwas verschwitzt und riecht nach Milch. Unbekümmert streckt sie ihre Hand aus und fasst nach meiner Nase, schaut verwundert. Dann entdeckt sie den Keksteller und greift danach, rutscht wild auf meinem Schoß umher, so dass mein Kleid höher gleitet. »Ich will einen Keks«, quengelt sie, und ich könnte sie jetzt auch an ihre Mutter abgeben, denn mir ist warm, meine Achseln sind schon feucht. Doch schließlich beruhigt sich das Mädchen,scheint sogar fast einzuschlafen, lehnt sich an mich, sein Atem geht regelmäßig. Der Bauch ist rund und warm, hebt und senkt sich.
    »Du magst sie wohl«, sagt Elsa.
    Ich nicke und habe Angst, dass sie meine Unsicherheit bemerkt. Bei meiner Erfahrung als Kindermädchen habe ich übertrieben. Aber ich will fort von den sticheligen Bemerkungen in der Hutabteilung, möchte diese neuen Zimmer kennenlernen, möchte hinein in den Wirkungskreis dieser freundlichen und selbstbewussten Frau.
    Elsa erzählt von ihrer Forschungsgruppe, ihren Dienstreisen. So sitzt sie vor mir, sicher und großzügig, spricht von ihren ungewöhnlichen Plänen, ungekünstelt und selbstverständlich wie andere von ihrem Abendessen sprechen.
    Mir wird sofort klar, dass sie zu denen gehört, die alles kriegen, vor denen andere fast zusammenbrechen, weil sie so unendlich viel weniger erreichen.
    Elsa bittet ihren Mann für einen Moment zur Hilfe in  die Küche. Ich weiß, dass sie jetzt mit gedämpften Stimmen über mich sprechen werden. Ich weiß nicht, dass es der Mann ist, der Zweifel hat. Er sagt es mir später, als wir nebeneinanderliegen. Er hat es kommen sehen, wollte die Verhärmte, beugte sich aber Elsas Willen.
    Mit dem Mädchen auf dem Schoß sitze ich auf dem Sofa und versuche zu hören, was in der Küche gesprochen wird, aber Ella plappert zu laut. Ich schaue mich um. Eine Kommode, Bücherregale. Ein souverän geführter Haushalt, neue praktische Geräte. In der Ecke steht ein Fernseher, der mich ein wenig einschüchtert. An den Wänden hängen Bilder. Einige – das erfahre ich später – sind von ihm selbst, andere von befreundeten Künstlern. Das Mädchen klettert von meinem Schoß und läuft zu den Eltern in die Küche. Noch fremdeln wir.
    Ich stehe auf und schaue das Bild an, das umgedreht an der Wand lehnt. In mir lodert es auf: Helene Schjerfbeck! Die habe ich bisher nur im Museum gesehen.
    Elsa kommt zurück ins Wohnzimmer, strafft die Schultern.
    »Wieso steht das hier in der Ecke?«, frage ich.
    Elsa macht eine wegwerfende Handbewegung, lacht. Sie beugt sich zu mir, als würde sie mir ein Geheimnis verraten, senkt die Stimme: »Das ist doch längst aus der Zeit. Mein Mann will alle altmodischen Bilder weghaben. Magst du es?«
    Er beobachtet uns und lächelt mir zu. Sieht mich an, zur Seite, wieder an.
    Dann verkündet Elsa begeistert:»Wir möchten dich gerne einstellen. Wenn du dich für die Arbeit interessierst.«
    Das Mädchen schaut mich an und hebt die Augenbrauen. Als ich es ihm nachtue, lacht es hell und perlend.
    »Ich habe eine neue Arbeit«, sage ich abends zu Kerttu.
    Sie sitzt am Küchentisch und isst Butterbrot. Ihr verblüffter Ausdruck weicht sofort einem neugierigen.
    Meine Kerttu: das Haar dick und dunkel, die Augen schwarz umrandet. Sie stammt aus einer wohlhabenden Familie, ihr Vater trug noch den schwedischen Namen Brännare und nannte sich dann finnisch Palovaara, glaubte daran, dass sein Land Menschen brauchte, die statt des früher so machtvollen Schwedisch die eigene Sprache sprachen und auch einen Namen in dieser Sprache trugen. Aber nicht nur der neue Nachname, auch Wörter wie Glaube und Vaterland wurden in Kerttus Zuhause andächtig ausgesprochen. Und doch trägt Kerttu den Traum von der Fremde, der großen Welt in sich. Unbekannte Länder, fremde Riten, exotische Schmuck ­stücke.
    Ich traf Kerttu in der Schlange zur Anmeldung für
einen Deutschkurs.
    »Hast du nicht auch manchmal das Gefühl, dass man mal einen Skandal auslösen müsste?«, flüsterte sie mir zu und grinste. »Los, wir ziehen unsere Blusen aus  und rennen durch die Aula! Ich gebe dir eine Mark. Und alle Kaffeepausen und mein Herz, für immer und ewig.«
    Wir zogen unsere Blusen nicht aus, aber die Kaffeepausen verbrachten wir seitdem zusammen.
    Seit zwei Jahren schon wohnen wir gemeinsam in einer Wohnung, und ich kenne Kerttus Angewohnheiten und Überzeugungen. Sie schläft jeden zweiten Tag bis mittags, an

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