Wahr
Er kann dir ein interessantes Umfeld bieten, schätze ich. Aber er kann natürlich auch ein Idiot sein.«
»So wirkt er nicht.«
Kerttu seufzt, lächelt. »In Ordnung. Meinen Segen hast du. Solange du nicht dein Leben lang Kindermädchen bist.«
Nun muss ich nur noch meine Eltern anrufen. Meine Mutter spricht ihre Enttäuschung nicht aus, obwohl ich ihre Gedanken hören kann; sie hätte ihrer Tochter etwas Besseres gewünscht. Stattdessen redet sie von dem neuen Fernseher, den mein Vater gekauft hat. Seit Mäntyranta im Winter Gold im Skilanglauf geholt hatte, wollte er unbedingt einen haben. Vorher war er strikt gegen jeden neumodischen Kram gewesen.
»Und was guckt ihr euch so an?«
»Das Testbild. Allein das ist aufregend!« Meine Mutter schweigt einen Moment. »Dann wirst du wohl den Sommer über nicht zu uns kommen können?«
»Das ist noch gar nicht gesagt.«
Mein Vater spricht aus, wovor ich Angst gehabt habe. »Da hättest du …«
»Was?«
»Da hättest du genauso gut hier kochen und auf die Kinder aus der Nachbarschaft aufpassen können.«
Aber ich mache mir nicht allzu lange etwas aus seiner Meinung, denn ich will mir eine eigene Welt aufbauen.
Im Juni, einen Tag vor Elsas Reise, trage ich zwei kleine Koffer ins Haus. Elsa ist allein, ihr Mann spielt mit der Tochter im Park.
Sie zeigt mir mein Zimmer, es ist klein, aber hübsch. Das Fenster geht auf den Innenhof, ich sehe die große Kastanie, deren Blüten schon verwelken, und zwei junge Apfelbäume. Dies ist der Beginn des Glücks. Welche Art von Glück, das weiß ich noch nicht.
Im Schlafzimmer packt Elsa ihre restlichen Sachen, faltet Kostüme und Kleider und legt sie in einen großen Koffer. Im Vorbeigehen berührt sie mich kurz, das ist eine Aufforderung und ein Versprechen: Ich bin nicht als Stubenmädchen hier, ich habe Zutritt zu ihrem Schlafzimmer.
»Was machst du eigentlich genau?«, frage ich, von ihrer vertrauensvollen Art ermutigt.
Ohne sich aufzuplustern antwortet sie: »Unser Forschungsgebiet sind Kinder. Wir entwickeln eine neue Therapieform, eine Spieltherapie.«
Elsa besucht regelmäßig eine Kinderklinik, deren Säle voll sind von Enttäuschung, Hilferufen, dem Wunsch nach Zärtlichkeit und soeben entdecktem Zorn. Aber vor allem, da ist Elsa sich sicher, sind diese Säle voll von nie versiegender Hoffnung, die jedes einzelne Kind in sich trägt. Es sind ganze Etagen voller Kinder – beim Spielen, in Gitterbetten, auf den Schößen ihrer ratlosen Mütter. Manche versinken zufrieden in die neuen Puppenspiele und Puzzles, andere starren gelähmt auf ihre Bauklötze. Elsa nimmt weinende Kinder auf den Schoß, wiegt sie beruhigend, macht sich danach Notizen. Sie würde es nicht fertigbringen, ohne Trost zu spenden an ihnen vorbeizugehen. Elsas Arme fragen nicht nach Gründen, sie sind offen, vorbehaltlos hilfsbereit.
»Schau mal«, sagt sie unvermittelt und nimmt ein Kleid aus ihrem Schrank. »Ich habe schon länger überlegt, wem das passen könnte. Mir ist es zu eng geworden.«
Sie hält es in die Luft, prüft den Schnitt, wirft einen Blick auf mich. »Willst du es anprobieren?«
Das Kleid ist schön, von einer Schneiderin gefertigt. Es ist eine Spur altmodisch, aber sehr erwachsen, ein Modell, für das man Erfahrung und Klugheit mitbringen muss. Ja, ich will es anprobieren. Ich will die Anmut des Kleides, seine Würde.
Elsa sieht mir beim Umziehen zu. Noch ist eine Art von Schwesterlichkeit zwischen uns, ein Zustimmen, von ihrer Seite aus vielleicht eine Nuance von Wegweisung. Sie schließt den Reißverschluss, bringt die Kleiderschranktür mit dem Spiegel in die richtige Position. Das Kleid ist ein wenig zu groß, an der Brust bildet der Stoff zwei luftige Hauben.
»Nur ein kleines bisschen zu weit«, sagt Elsa lächelnd. »Bring es zur Schneiderin, an der Naht kann man problemlos zwei Zentimeter einfassen.«
Später am Abend probiere ich das Kleid in meinem Zimmer an. Ich ziehe es behutsam über, trete hinein wie in eine Form. Es bleibt ein wenig zu groß, ich kann das Modell nicht restlos füllen. Ausgiebig betrachte ich mich im schmalen Spiegel am Wandschrank. Ich sehe aus wie eine Kopie, wie eine dümmliche Nachahmung. Irgendetwas ist falsch. Ich müsste irgendwie mehr sein, aber ich weiß nicht, wie ich das bewerkstelligen soll.
Als ich das Licht ausmache, tritt vor dem Fenster die Silhouette der Kastanie hervor. Ich liege lange wach und lausche auf Geräusche aus dem Schlafzimmer. Wenn Elsa und ihr Mann
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