Wahr
den anderen Tagen klingelt um sechs der Wecker. Manchmal isst sie eine Woche lang nur Reis, und manchmal futtert sie sich auf Rechnung wohlhabender Herren durch, lässt die Nähte ihrer Strumpfhosen aufblitzen, wenn sie quer durchs Restaurant zur Damentoilette geht. Anschließend spottet sie herzhaft über ihre Begleiter. Das sei Teil ihres Komplotts, sagt sie.
In den ersten Jahren, also in genau jener Zeit, wechselt Kerttu allmählich von Strumpfhosen und kurzen Röcken zu Jeans und schwarzen Rollkragenpullovern. Später kommen weitere Stile hinzu, sie ist ein Chamäleon. Am Ende des Jahrzehnts schlingt sie ein Band um ihre Haare, trägt Tücher mit Bommeln und knittrige weiße Baumwollhemden.
Ihre Sommer verbringt sie mal hier, mal da, als Au-Pair bei Bekannten in den USA , bei irgendeiner Ingrid auf dem Sofa in Kopenhagen. Von diesen Reisen bringt sie Bücher mit und Puderdosen und Hüte und Ausdrücke, die ich noch nie gehört habe. Schallplatten, die sie so laut abspielt, dass im Wohnzimmer unter uns die Farbe von den Wänden rieselt. Eine rauchig-heisere Frauenstimme, eine völlig neuartige Musik, die in diesen Jahren erst erfunden wurde. Noch ist nicht die Zeit der indischen Klänge, die kommt erst später. Und noch pfeffert Kerttu nicht ihre BHs in die Ecke, obwohl sie Ende der 60er Jahre stolz Bluejeans und enge T-Shirts trägt, ihre ungestützten Brüste wie selbstbewusste Äpfel zeigt.
Aber 1964 ist alles erst am Anfang. Kerttu frisiert ihre Haare zu einem bienenkorbförmigen Dutt und fixiert ihn mit Haarspray – später wird sie diese Etappe verachten. Sie sucht nach etwas, aber ich weiß nicht, was es ist. Sie ist rastlos und launisch und quirlig und glücklich und scheint beschlossen zu haben, dass an allem, was ihr widerfährt, auch ich teilhaben muss. In der Bibliothek liest sie fünf Bücher parallel; Politik, Geschichte, Philosophie und mindestens noch zwei Werke über vorgeschichtliche Volksstämme. Sie schwört, dass sie eines Tages den Staub ihres Heimatlandes von sich abschütteln und in die weite Welt aufbrechen wird.
Aber jetzt, 1964, sitzt sie mit ihren eingesprühten Haaren und den schwarz umrandeten Augen vor mir in der Liisankatu und schaut mich erwartungsvoll an. »Endlich bist du diese Vieno los! Und, was ist es für eine Arbeit? Zeitung? Dolmetschen? Sekretärin? Sekretärin ist nicht unbedingt ideal, aber da kannst du immerhin gut aufsteigen.«
»Nein«, sage ich, »ich bin als Kindermädchen und Haushaltshilfe bei einer Familie eingestellt.«
Kerttus Gesicht erstarrt, dann schleicht sich Enttäuschung in ihre Züge. Sie hat sich etwas anderes vorgestellt. »Du kochst noch nicht mal gern!«
»Ich werde lernen, es gerne zu tun.«
»Wozu?«, fragt Kerttu. »Sag mir wozu!«
Ich höre meine eigenen Erklärungen: »Hör schon auf. Du weißt genau, dass ich Geld brauche. Und dass ich die Hutabteilung verabscheue.«
Nicht ein einziges Mal habe ich meine Eltern um Geld gebeten, seit ich nach Helsinki gezogen bin. Und sie hätten auch keins gehabt. Im Gegenteil, sie haben sich an meine wöchentlichen Briefe gewöhnt, in denen ich neben ein paar Zeilen zu meinem Befinden auch zwei Scheine mit in den Umschlag lege.
»Es ist nur eine Arbeit«, sage ich. »Ich kümmere mich um das Kind, wenn die Mutter auf Dienstreisen ist.«
»Und obendrein putzt und kochst du?«
»Und obendrein putze und koche ich.«
»Du wirst schon sehen«, sagt Kerttu wissend und beißt entschlossen von ihrem Brot ab, als könne sie sich den Notwendigkeiten des Alltags entziehen. »Einmal Kindermädchen, immer Kindermädchen.«
»Nein. Das ist eine reelle Arbeit in einer netten Familie. Sie werden mich wie eine Angehörige behandeln.«
Kerttu lacht bitter auf.
Ich werde trotzig: »Sie haben mir ein Zimmer in ihrer Wohnung angeboten.«
»Du willst ausziehen?« Ihre Augen werden noch dunkler, als sie es ohnehin sind.
Ich werde weich, stehe auf und umarme meine Freundin. »Nein, will ich nicht. Ich werde nur dann bei ihnen übernachten, wenn die Frau auf Reisen ist.«
»Was macht sie eigentlich?«
»Sie ist Psychologin. Hat einen Doktortitel. Ihr Gebiet sind Kinder.«
Kerttus Miene hellt sich auf.»Und der Mann?«
Ich zögere die Antwort bewusst ein bisschen hinaus. »Ich glaube, dass er berühmt ist. Er ist Künstler.« Ich sage seinen Namen.
Kerttus schweigt einen Moment. »Gut«, sagt sie schließlich. »Ich weiß, wer das ist. Er verkehrt mit vielen anderen Künstlern und Dichtern. Bemerkenswert.
Weitere Kostenlose Bücher