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Wahr

Wahr

Titel: Wahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Riikka Pulkkinen
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Geschichte ihr individuelles Geheimnis. Zwei Menschen geben sich auf, sind erschrocken und verzückt zugleich. Sie begreifen, dass es kein Zurück mehr gibt, dass mit einem Schlag alles anders geworden ist. Sie begreifen, dass man sich nicht mehr an dem Punkt befindet, an dem man sich wähnte, dass man längst unterwegs ist auf den anderen zu.
    Anna geht mit dem Bücherkorb zur Rolltreppe, fährt in den ersten Stock. Ihre Großmutter und ihr Großvater haben sich auf einer Universitätsfeier kennengelernt. Großvater konnte die Augen nicht von Großmutter lassen, einer Psychologiestudentin mit breitem Gesicht und mädchenhaften Grübchen. Ihren Großvater kann Anna sich gut vorstellen. Ein gut aussehender junger Mann, sogar eher schön als nur attraktiv. Sensibel, manchmal hitzig. In diese Hitzigkeit, die ihre Großmutter selbst hervorrufen konnte, hatte sie sich damals als Erstes verliebt. Und in die großen Pläne, die der junge Mann hegte.
    Annas Eltern hingegen waren erst sechzehn, als ihre Liebe begann. Da war das Physikreferat, auf das beide keine Lust hatten. Ein Mittwochabend; die bunt gemusterten Marimekko-Vorhänge und die große Stehlampe stellten die freundliche Kulisse. Ihr Thema war die Schwerkraft. Annas Mutter widersprach allem, was ihr Vater sagte, obwohl ihr sein Lachen längst aufgefallen war und gut gefiel. Er behauptete, er könne im Kopfstand eine Apfelsine essen.
    »Nie im Leben«, sagte sie.
    »Dann guck mal genau hin«, beharrte er.
    Er legte die Apfelsinenspalten bereit, machte einen Kopfstand auf seinem Bett, lehnte die langen Beine gegen das Led-Zeppelin-Poster und aß ruhig und konzentriert die ganze Apfelsine auf. Er nahm die Beine wieder herunter, setze sich hin und sagte lächelnd: »Siehst du? Neben der Schwerkraft wirken noch ganz andere Kräfte.«
    »Und welche zum Beispiel?«, fragte das Mädchen.
    »Zum Beispiel Vertrauen«, schlug der Junge vor.
    »Und worauf soll ich vertrauen?«, fragte ihre Mutter, die damals noch keine Mutter war, sondern nur dieses Mädchen mit dem Spitznamen Ella.
    »Na, vielleicht erst einmal auf das, was ich sage«, erwiderte der Junge mit der Apfelsine im Bauch und lächelte noch breiter.
    Anna ist neidisch auf diese Geschichten, will selbst so eine haben. Den ganzen letzten September hat sie an Marc gedacht. Sie war nach Paris gegangen, die böse Trennung lag vier Monate zurück. Eigentlich eine dumme Idee, aber der Flug war günstig. Alleine nach Paris! In Helsinki schien das aufregend und romantisch, wie ein Tor zur Freiheit. Ihre Beziehung war beendet, und mit der Reise in die Stadt der Liebe würde sie eine neue Frau werden und die alten Erfahrungen von sich abstreifen. Aber in Paris fühlte sie sich verwaist. Sie irrte umher und traf in einem Museum schließlich auf Marc, einen ­schmalen jungen Mann. In einem Café teilten sie mitein­ander eine Flasche Wein und ihre Kindheitsängste. Am Seine-Ufer küsste er sie und schlug unvermittelt vor, dass Anna nach Paris ziehen solle. Er beschloss, dass es die große Liebe war und ein glückliches Leben vor ihnen lag.
    »Ich kenne dich doch gar nicht«, protestierte Anna. »Wirf dich einfach hinein!«, erwiderte Marc.
    Und das tat Anna: Sie warf sich in Marcs Bett in seiner kleinen Wohnung im Marais. Es war genauso schnell vorbei, wie es begonnen hatte. Am Morgen klaubte sie ihre Sachen zusammen und ging leise hinaus, ohne Marc zu wecken. Sie fand nie heraus, ob es wahre Liebe hätte werden können oder ob es bei dem kurzen, etwas vagen Genuss in dem unordentlichen, aber gemütlichen Zimmer unter dem Che-Guevara-Poster geblieben wäre. Wie geschmacklos, das Bild eines Mörders über sein Bett zu hängen. Vielleicht hätte sich Marc als Filou entpuppt. Oder es wäre tatsächlich eine große Liebesgeschichte geworden, die sie nun verpasst hatte. Anna wird es nie erfahren.
    Natürlich hat sie die Geschichte gehabt, die auf dem Fußboden im Flur endete. Sie hätte diese Geschichte gern zu ihrem wirklichen Leben gemacht, durch ihre Liebe. Gib alles, und du bekommst eine ganze Welt. Ihr wird kurz schwarz vor Augen. Sie fegt im Vorbeigehen versehentlich ein Buch vom Regal, hebt es rasch auf, lächelt wirr eine Kollegin an. Dann nimmt die Welt wieder Gestalt an, und Anna geht mit ihrem Korb in die nächste Abteilung.
    Als sie Matias zum ersten Mal sah, stellte sich kein nennenswertes Gefühl in ihr ein. Ein Lächeln quer durch den Partyraum, ein eher nichtssagendes Gespräch an einem klebrigen Küchentisch, bei

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