Wahr
großbrüstige vitale Großmutter gibt es nicht mehr. Aber es gibt noch immer die Frau, die die Gedanken aus dem Vorwort gedacht und sie aufgeschrieben hat.
Das Buch wird auch dann noch verkauft werden, wenn sie tot ist. Noch viele werden das Vorwort lesen und denken: Elsa Ahlqvist war eine kluge Frau und garantiert eine gute Mutter und Großmutter.
Anna geht zurück zur Rolltreppe. Wieder aktiviert sie den erstaunlichen Gedanken: Zwischen diesen Tausenden von Buchdeckeln schlummern nahezu unendlich viele Liebesgeschichten.
1964
Die Liebe beginnt ungeplant. Wir sind unvorsichtig und kümmern uns nicht um die Zeichen, die wir schon Wochen und Monate vorher wahrnehmen könnten, bevor wirklich etwas passiert.
In den ersten Tagen meiden wir einander, tauschen nur minimale Höflichkeiten und nervöse Bemerkungen zum Wetter aus. Morgens sitzt er zerstreut am Küchentisch. Schmiert sich ein Butterbrot, schlägt die Zeitung auf, kratzt sich den Nacken. Einzelne kleine Gesten, die Andeutung einer ganzen schönen Palette. Ich wende den Kopf ab, will das alles gar nicht sehen und wissen. Ich wandele durch die Zimmer, als wäre ich in einem Film. An zwei aufeinanderfolgenden Abenden lädt der Mann Freunde ein, schließt die Tür vor meiner Nase. Die Lachsalven dröhnen aus dem Zimmer, ich schalte den Fernseher ein. Der Nachrichtensprecher sieht besorgt aus – mir war nicht bekannt, dass man Tatsachen mit einer Falte auf der Stirn vermelden muss. Bislang habe ich die Weltlage immer aus dem Radio erfahren.
Am Abend nach der zweiten Feier beginnt er zu malen. Er malt auch am nächsten Tag, und dem danach. Nacht für Nacht höre ich ihn in den Morgenstunden polternd aus dem Atelier runterkommen, womöglich hat er getrunken. Ich liege wach und lausche, höre jedes Geräusch, seinen regelmäßigen Atem, der mir fremd ist, und habe Angst, er könnte in mein Zimmer kommen. Worauf habe ich mich eigentlich eingelassen? Was, wenn er im Delirium ist, wenn er zu denen zählt, die eine Schnapsflasche in einem Zug leeren? Nein, er ist nicht betrunken. Er ist nur nachtblind, verliert das Gespür für seinen Körper, stößt gegen Möbel. Noch kann ich das nicht wissen, denn ich kenne erst seine morgendliche Zerstreutheit, den verschlafenen Blick beim Zeitunglesen. Es gibt noch tausend Dinge, die ich nicht weiß, und danach weitere tausend. Unendlich mal tausend. Ich höre ihn eine Tür öffnen, spitze die Ohren, halte die Luft an. Stille. Irritiert stehe ich auf, schleiche durch die Diele, er steht vor Ellas Zimmer.
»Was machst du?«, frage ich. Ich duze ihn und seine Frau von Anfang an, sie wollen es so.
»Psst.«
Diesen Gesichtsausdruck habe ich bisher nicht gekannt.
»Ich beobachte, wie sie schläft«, sagt er, scheint sich seiner Sentimentalität nicht zu schämen. »Ich muss wissen, dass sie in Sicherheit ist, vorher kann ich nicht einschlafen.«
Die Gefühle für seine Tochter sind echt, aber seine Malerei ist aufgeblasen. Er ist viel zu sehr von sich überzeugt, denke ich. Mimt den großen Künstler, den Berühmten. Ich finde, dass seine Arbeit nichts als Kinderei ist: Er wirft sich hinein wie ein stolzes Kind in sein Spiel.
Am nächsten Tag rufe ich Kerttu an. »Er malt jeden Abend«, beschwere ich mich, »er grüßt mich kaum!«
»Klingt unangenehm.«
»Er ist ekelhaft hochnäsig. Ich weiß nicht, wie ich mit der Situation umgehen soll.«
»Klopf einfach an seine Ateliertür und sag ihm, dass es in der Küche brennt, im Badezimmer die Wanne überläuft und die Wohnzimmerwände bröckeln, dass das Mädchen in der Spüle badet und du sofort ausziehst. Das wird ihn schon aufrütteln.«
»Pf. Den nicht.«
Auf der Treppe nach oben sammle ich all meinen Zorn. Der Flur im Dachgeschoss schluckt das Geräusch meiner Schritte, es riecht nach Sauna. Ich bleibe kurz stehen, höre das Knacken im Gebälk, muss an den Mittagsschlaf als kleines Kind zu Hause in Kuhmo denken, in der sommerlich warmen Dachkammer. Dann gehe ich zur Tür, hebe das Kinn und klopfe. Als ich ohne Aufforderung eintrete, fragt er unwirsch:
»Was gibt’s?«
»Ich würde gerne wissen, wie lange das so gehen soll.«
Er sieht mich an, als würde er den Sinn meiner Frage nicht verstehen, als wäre ich eine kuriose sprechende Puppe.
»Das Mädchen schläft«, verkünde ich.
»Tja. Und?«
»Was soll ich jetzt machen?«
»Wieso muss ich dir das sagen? Du kannst dir das selbst überlegen, du hast den ganzen Abend frei. Geh doch spazieren.«
»Nicht
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