Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wahr

Wahr

Titel: Wahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Riikka Pulkkinen
Vom Netzwerk:
möglich, ich habe ein Loch im Schuh.«
    »Dann lad eine Freundin ein.«
    »Meine Freundinnen feiern gerade alle Verlobung oder sind unterwegs zum Standesamt.«
    Er sieht mich prüfend an. »Komm«, sagt er und zieht mich in sein Atelier. Mit einem Schultergriff dirigiert er mich vor seine Staffelei. »Sieh dir mein Bild an.«
    Er ist forsch, kühn – die vielen Arbeitsstunden, die künstlerische Selbstgewissheit haben diese stolze, souveräne Seite aktiviert. Zuvor hat er jeden Körperkontakt vermieden.
    »Was denkst du?«
    Das Bild ist lächerlich, ich kann damit absolut nichts anfangen, und ich verberge es nicht: »Striche und Kreise«, sage ich monoton. »Ich sehe Striche und Kreise.«
    Ich übertreibe meine Geringschätzung ein wenig, betone meine Gleichgültigkeit – vielleicht, weil man beim Streiten von Anfang an eine bestimmte Rolle einnimmt und die auch meist behalten wird.
    »Du scheinst nicht viel von Kunst zu verstehen«, sagt er.
    Sein abfälliger Ton ist für mich ein Ansporn, mich so zu verhalten wie Kerttu in ihren frechsten Momenten. »Kann schon sein, dass ich nicht von jeder Art Kunst etwas verstehe. Was soll dieses Bild überhaupt darstellen?«
    »Nichts«, sagt er. »Kunst muss nicht unbedingt etwas darstellen. Figurative Kunst gehört sogar eher in vergangene Zeiten.«
    »Ich weiß genau, was du mir sagen willst. Ich habe deine Bilder in einer Ausstellung gesehen, schon da stand meine Meinung fest. Warum malst du keine Menschen? Warum malst du nicht Elsa oder eure Tochter?«
    »Weil ich sie nicht male«, antwortete er schlicht und einfach. »Ich habe sie nie gemalt.«
    »Vielleicht solltest du aber.«
    »Vielleicht solltest du in meine Veranstaltung zu Jackson Pollock kommen. Die Vorlesung beginnt im Herbst.«
    »Von Pollock wird mir schlecht.«
    »Zu bunt?«
    »Zu viel Durcheinander, als wäre die Welt ein vollgepferchter Schweinestall! Pollocks Arbeiten schreien nach einer Wurzelbürste und Kiefernseife. Nach einer gründlichen Behandlung könnte man sie vielleicht aufhängen.«
    Er lacht, ich blicke ihm fest in die Augen, eine Sekunde, zwei. Ein langer Moment.
    »Gut«, sage ich schließlich. »Wenn du mit dem hier fertig bist –«, ich werfe einen Blick auf das Bild, seine Farben, Pinsel und Schwämme, »– wenn du mit der Erschaffung dieser Welt fertig bist, solltest du runterkommen. Dort ist ein Schrank ein Schrank und ein Apfel ein Apfel. Aber glaub nicht, dass ich dir was zu Essen vorbereite. Wer sich bis spät nachts auf seiner Staffelei neue Welten ausdenkt, der kann sein Käsebrot selbst schmieren.«
    Hitzig und siegesgewiss schließe ich die Tür – die erste Stufe der Liebe, aber das erkenne ich nicht! –, schaue nicht noch einmal zurück, um die Wirkung meiner Worte zu prüfen.
    Einmal begegnen wir uns zufällig, ich bin auf dem Weg zu meiner vorletzten Schicht in der Hutabteilung. Er kommt mir entgegen, ich sehe ihn schon von Weitem, aber er sieht mich noch nicht. Seine Schritte sind sorglos, gelassen, er hat die Hände in den Taschen und eine Zigarette zwischen den Lippen.
    Mühelos vereint er den Widerspruch von Genauigkeit und Unbekümmertheit. Entspannt, lässig, so gibt er sich nach außen. Genau und penibel ist er im Umgang mit seiner Tochter und beim Malen, manchmal auch beim Lesen.
    Jetzt schaut er über die Straße und entdeckt mich. Er lächelt, springt über die Straßenbahnschienen und steht vor mir. Die halbgerauchte Zigarette wirft er zu Boden. Ohne mir meines Gedankens wirklich bewusst zu sein, ohne seine tiefere Bedeutung zu erfassen, denke ich, wie schön er ist.
    »Hallo Eeva«, sagt er.
    Jetzt sieht er garantiert genauso aus wie als Drei­zehnjähriger, als der Nachbarjunge ihn zum Rauchen angestiftet hatte und ihnen Loviisa entgegenkam, die junge Sekretärin aus demselben Wohnviertel, in die alle Jungs verknallt waren. Er hat sie auf dieselbe Weise ge grüßt wie mich: Die Hand kurz gehoben, ein wenig spöt­ tisch mit den Augen gelächelt, gerader Blick, erhobenes Kinn.
    »Hallo.«
    »Bist du unterwegs zur Arbeit? Ich dachte, du hättest schon im Kaufhaus aufgehört. Oder hast du es dir anders überlegt, jetzt, wo du unseren frechen Nachwuchs kennengelernt hast?«
    Ganz absichtslos trage ich ihm alle alten, in mir angelagerten Formen meines Ichs entgegen. Wüsste ich bereits an dieser Stelle, was ich erst später lernen werde, würde ich mich in Acht nehmen. Es ist die erste Stufe der Liebe: Wenn man einander ganz sehen kann, im Blick des anderen

Weitere Kostenlose Bücher