Wahr
Beleidigung meiner Kompetenzen.«
»Dann biete ich dir drei.«
»Für drei Kekse reiße ich den morschen Boden selbst raus und tanze danach Polka!«
»Abgemacht.«
Elsa legte ihre Hand auf seinen Schenkel, schaute in die Wolken. »Ich will nicht sterben.«
Das kam unvorbereitet. Der Satz brachte ihn völlig aus der Fassung. »Hast du Angst?«
»Nein. Ich habe keine Angst. Aber ich will einfach noch nicht. Ich bringe es nicht über das Herz.«
Sie schloss die Augen. Er musste an die Elsa aus den Siebzigern denken, als sie einen Monat in Dubrovnik verbracht hatten. Elsa auf der Sonnenliege, im gelben Bikini an der Adria, genauso ermattet und zart wie jetzt.
»Anna hat das Kleid gefunden«, sagte sie, die Augen noch immer geschlossen.
»Welches Kleid?«
»Eevas.«
»So?«, bekam er heraus. »Wieso ist das noch bei uns, wieso ist es nicht entsorgt?«
»Es hing all die Jahre bei uns im Schrank.«
»Und?«
Elsa schwieg einen Augenblick, räusperte sich.
»Ich habe es Anna erzählt.«
»Warum?«
»Ich muss von meinem Leben erzählen, das wird mir in letzter Zeit immer klarer. Wenn ich es nicht selbst tue, dann erzählt niemand davon.«
Hatte Anna mit ihrer Mutter gesprochen? Wusste Eleonoora es ohnehin? Ziemlich sicher wusste sie etwas, erinnerte sich an Einzelheiten, vielleicht sogar alles, hatte nur nie darüber gesprochen.
»Hätte man nicht zuerst mit Eleonoora darüber reden müssen?«, fragte er.
»Vielleicht«, sagte Elsa. Sie sah ihn mit hilflosem Ausdruck an.
Er spürte: Sie bekam Angst, bereute das Gespräch mit Anna womöglich.
»Vielleicht hätten wir von Anfang an offen darüber reden sollen«, sagte sie.
»Damals hast du anders gedacht.«
»Damals habe ich viele leidende Kinder gesehen, die zu viel vom Leben ihrer Eltern wussten. Ich dachte, dass Kinder ein Recht darauf haben, in einer kindlichen Welt zu leben, mit Spielen und Träumen.«
»Aber sie ist doch glücklich. Oder nicht? Jedenfalls ist aus ihr eine glückliche Frau geworden.«
»Kann sein«, sagte Elsa vage. »Ich werde es ihr gegenüber ansprechen. Wenn der richtige Moment gekommen ist. Ich werde auf den richtigen Moment warten.«
Er behielt es für sich, dachte nur: Der richtige Moment kommt nie.
Sie saßen noch eine ganze Weile auf der Bank. Sahen zu, wie der Himmel orange wurde, dann malvenfarben, schließlich dunkelblau. Auf dem Rückweg wurde Elsa müde und bat ihn, das Auto zu holen und ihr entgegenzufahren.
9.
ANNA IST UNGEDULDIG , muss aber an diesem Nachmittag noch zwei Stunden in der großen Buchhandlung durchhalten. Danach wird sie sich mit ihrer Mutter in der Delikatess-Abteilung von Stockmann treffen. Was für ein Vergnügen, für den Ausflug aufs Land einzukau fen, aus den üppigen Obst- und Gemüseauslagen zu wäh len, den besten Käse, frische Zucchini, süßes Schaumgummi in den Korb zu legen, oder edlen Moltebeerjoghurt, worauf auch immer sie Lust hatten!
Sie zählt die Stunden bis zur Abfahrt ins Sommerhaus, obwohl sie auch Angst davor hat, dass es kompliziert wird. Man weiß nie, ob sie lachen und sich necken werden oder ob das Zusammensein angespannt sein wird, vielleicht sogar in Streit ausartet. Manchmal albern sie die ganze Zeit herum, kochen und kichern wie Schwestern. Dann ist ihre Mutter ausgelassen und verspielt wie eine Fünfzehnjährige. Manchmal aber sieht Anna ihrer Mutter schon bei der Begrüßung an, dass Sticheleien und als Empathie getarnte unangenehme Fragen anstehen.
Die Geräusche in der Buchhandlung sind gedämpft, die Luft ist trocken. Aus dem Café im ersten Stock tönt das herausfordernde Zischen der Espressomaschine. Im Dachfenster sammelt sich Licht, in den Regalen ruhen träge die Bücher. Anna rafft sich auf und sammelt Bücher, die unentschlossene Kunden in Kassennähe liegen gelassen haben, in einen Korb. Das Einsortieren dieser Bücher ist das Schönste an der Arbeit, es führt sie in die Abteilung mit den fremdsprachigen Romanen, die Rolltreppe hinauf in den ersten Stock zu den Bereichen Wirtschaft und Politik, manchmal auch in den zweiten Stock zu den Kunstbänden und Reiseführern.
Anna ruft sich folgende Überlegung in Erinnerung, die ihr jedes Mal guttut: Wie viele Liebesgeschichten sind in all diesen Büchern? In beinahe jedem Roman gibt es eine Liebesgeschichte, oder zumindest einen Auftakt dazu. All diesen Geschichten ist etwas gemeinsam, manchmal sogar so viel, dass die alljährlich neu verfassten Bücher überflüssig wirken könnten. Und doch birgt jede
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