Wahr
dem sie dachte: »… aha, so ein Typ ist das also.«
Matias schlug ein Treffen vor, Anna willigte ein, da es sonst niemanden gab. Bald merkte sie, dass sie sein Lächeln mochte. Im Café Succés in der Korkeavuorenkatu tranken sie Kakao, teilten sich eine große Zimtschnecke. Nach zwei Wochen dachte sie: Vielleicht ist diese Leichtigkeit und Unkompliziertheit, die ich mit Matias erlebe, der Beginn von Liebe. Nach weiteren zwei Wochen trugen sie zusammen das Sofa über die Schwelle.
Anna geht in die Philosophie-Abteilung, stellt das Buch an seinen Platz. Aus einer Laune heraus schaut sie in der Psychologie-Abteilung vorbei und prüft, ob die Bücher ihrer Großmutter vorhanden sind. Immerhin, ein Exem plar des bekanntesten Werkes »Individualität und Erken nen« ist da. Anna hat es erst in der Oberstufe gelesen, als sie im Psychologiekurs ein Referat über Entwicklungstheorie hielt. Damals war sie verwundert und stolz; die Lehrerin hatte gefragt: »Ist Elsa Ahlqvist wirklich deine Großmutter? Das ist ja toll. Bitte richte ihr herzliche Grüße aus!«
Im Schulbuch war ein Gruppenfoto aus den Sechzigern abgebildet, Wissenschaftler in einer Kinderklinik, nach denen Theorien und Entwicklungsmodelle benannt worden waren. In der Mitte stand ihre Großmutter. Sie auf diesem Foto im Schulbuch »Psychologie II« zu entdecken, war fast so, als würde sie einen fremden Menschen sehen.
Anna blättert das Buch auf, noch einmal liest sie das Vorwort. Der Fall Luna – ein Mädchen, das in einem Pappkarton am Bahnhof gefunden wurde und das allmählich wieder Vertrauen in die Welt aufbaute – hatte sie sehr berührt.
Das Risiko der Individualität ist aus der Perspektive des Kindes unverhältnismäßig groß. Zu diesem Schluss bin ich gekommen, als ich über viele Wochen hinweg die Entwicklung Lunas verfolgt habe. Der Moment, in dem ein Kind sein Selbst, sein Individuum-Sein zum ersten Mal bewusst erfährt, ist ein Urmoment der Einsamkeit. Gleichzeitig ist es die erste Möglichkeit für das Kind, sein persönliches Glück zu finden. In das Wesen jedes Menschen sind die Möglichkeiten der größten Einsamkeit und des größten Glücks eingeschrieben. Beide Optionen sind für das Kind in greifbarer Nähe, und zwar ab dem Moment, in dem es sein Getrenntsein von den Eltern begreift. In diesem Moment ist das Kind sich zunächst auch selbst fremd. Erst indem es sich, verlässlich wiederkehrend, im elterlichen Blick wiedererkennt, hat es die Chance, sich selbst vertraut zu werden. Das Erkennen beinhaltet sowohl die Erfahrung von Glück als auch die von Getrenntheit. Aus diesem Riss, aus der Spannung von segensreicher Zugehörigkeit und quälender Getrenntheit, entwickelt sich das Selbst. Diese Konstellation könnte eine Tragödie sein, wäre sie nicht zugleich Quelle für die wesenhaft zum Individuum gehörige Hoffnung.
Und nun stellen Sie sich Luna vor: Sie hat Schlimmstes erfahren, bis sie von Passanten in einem Pappkarton gefunden wurde. Stellen Sie sich ihre unsicher ausgestreckte Hand vor. In den ersten Klinikwochen saß sie apathisch in einer Ecke und wiegte sich vor und zurück, mied jeglichen Blickkontakt. In den folgenden Wochen klammerte sie sich, einem Hilfeschrei gleich, an ihre Pflegerinnen. Stück für Stück wuchs ihr Vertrauen. Stellen Sie sich ihr erstes Lächeln vor, ihr erstes lautes Lachen im Laufstall. Um was sonst geht es im Leben des Menschen, wenn nicht um Hoffnung. Wenn nicht um Liebe, die die Menschen, auch die Versehrten, Gebeugten, einander antragen.
Anna muss an die muskulösen Arme ihrer Großmutter denken und an ihren großen weichen Busen. Wie sie und ihre Schwester staunten, als sie sich früher in der Sommerhaussauna vorbeugte, um Wasser aus der Tonne zu schöpfen.
Maria war erst fünf und schamlos aufrichtig, wie kleine Kinder es eben sind; fasziniert glotzte sie auf die üppigen Brüste.
»Die sind ja riesig!«, rief sie und streckte ihren Zeigefinger aus.
»Ja, das sind sie wohl«, sagte ihre Großmutter und lächelte.
»Wachsen mir auch solche Berge?«, fragte Maria.
»Ich denke schon«, antwortete ihre Großmutter.
»Und dann werde ich Mutter!«, sagte Maria naseweis.
»Dafür brauchst du aber noch einen Mann«, korrigierte Anna. Sie war acht und wusste über die Welt Bescheid.
»Vielleicht auch nicht«, beharrte Maria. »Manche Frauen können ganz alleine Mutter werden.«
»Höchstens im Märchen«, sagte Anna und war zufrieden mit ihrer Rolle als großer Schwester.
Die
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