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Wahr

Wahr

Titel: Wahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Riikka Pulkkinen
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jede Angst und jede Hoffnung lesen kann. Ich lasse die Warnzeichen an mir vorüberziehen wie einen Schwarm Spatzen.
    »Meine Schicht beginnt erst in einer Stunde.«
    Das ist ein Angebot. Er kann darauf eingehen, wenn er will, und er tut es.
    »Ich könnte dich zum Kaffee einladen.«
    Als ich ihn über den Tisch hinweg anschaue, sehe ich, dass er an mich gedacht hat. An die verschämte erste ­Woche. An den Abend, als er mich versehentlich im Badezimmer beim Zähneputzen überraschte und er vor Verblüffung über die klare Abendluft faselte, seine Verlegenheit überspielen wollte. Auch an die eigenartige Begegnung in seinem Atelier hat er gedacht. War das ein Spiel oder ein Streit? Er weiß es nicht. Eine solch unerfreuliche Szene möchte er nicht noch einmal erleben. Daher hat er beschlossen, sich nicht mehr wortlos in seine Arbeit zurückzuziehen. Er wird vorschlagen, während Elsas nächster Reise ins Sommerhaus nach Tammilehto zu fahren, wo wir … – wir?
    Er will den Gedanken noch nicht zu Ende denken. Er erlaubt sich nur den Anfang zu denken, dieses Wir, aber wie es mit dem Gedanken weitergehen soll, hat er sich noch nicht überlegt.
    »Was ist mit deinem Studium? Das Semester ist fast um, hast du deine Klausuren schon geschrieben?«
    »Richtig, das Semester ist fast um.« Ich provoziere ihn, will es ihm nicht so leicht machen. Ein seltsames Spiel.
    »Wirst du nach Hause fahren? Wo ist das nochmal?«
    »In Kuhmo.«
    »Im Juli wahrscheinlich, was? Zur Feldarbeit? Macht ihr dort oben im Norden immer noch Brandrodung?«
    »Ob wir da oben im Norden immer noch Brandrodung machen? Wie kommst du denn auf so was?!«
    »Ich kenne die alten Spielfilme. Gib’s zu, du springst auf grünen Wiesen umher, raufst mit blond gelockten Jungs und versteckst dich hinter Heuhaufen.«
    »Genau, ich raufe mit blond gelockten Jungs, und alle fünf Minuten verschwinde ich auf einen Kuss in die Scheune.«
    Er streut Zucker in seinen Kaffee und sieht belustigt zu, wie ich Gabel für Gabel mein Alexander-Törtchen aufesse. »Du glaubst, dass ich auf dem Land nicht zurechtkommen würde?«, fragt er herausfordernd. »Dass ich im Winter ins Eisloch fallen, im Sommer beim Bootfahren die Ruder verlieren würde, ständig um Hilfe rufen müsste?«
    »Genau. Und obendrein würdest du dich im Wald verlaufen und losheulen. Und der Bär würde dich verfolgen, und der Wolf würde dich schließlich zu fassen kriegen und dir ein Bein abbeißen.«
    »Aber meine Hände hätte ich noch. Mit denen könnte ich das Licht malen. Der See ist wie ein Spiegel, habe ich recht? Und die Bäume erheben sich wie spärliche Fragezeichen in den Himmel, oder?«
    Ich lache. Er lacht ebenfalls, sieht aus dem Fenster; durch die Scheibe hindurch grüßt mich ein alter, fein angezogener Herr und hebt seinen Hut.
    »Du scheinst dich nicht besonders für meine Arbeit zu interessieren.«
    »Für diese Striche und Kreise? Ich halte sie für etwas aufgeblasen.«
    Er hebt die Augenbrauen. Ich bin vorlaut. Er weiß nicht, wie er reagieren soll, ob er meine direkte Art anstrengend oder entzückend finden soll. Und auf einmal überlegt er, wie ich nackt aussehe. Er ist irritiert über diesen Gedanken und schaut wieder aus dem Fenster. Was er als Nächstes denkt, weiß ich nicht; ich vermute, es ist einfach eine Art von ihm: Woanders hinzusehen, während er nach dem nächsten Satz sucht.
    »Was für Kunst magst du denn?«
    »Edelfelt, Schjerfbeck und Gallen-Kallela. Künstler dieser Art.«
    »Die sind natürlich gut«, räumt er ein. »Aber ein bisschen altmodisch. Langweilig. Ich mochte sie, als ich fünfzehn war.«
    »Langweilig?« Ich schaue auf meine Armbanduhr, kratze die Törtchenreste vom Teller und stecke sie mir in den Mund. »Möchtest du das Licht kennenlernen, die Landschaft, aus der ich komme?«
    »Ja.«
    Bei diesem Ja blickt er mir in die Augen, tief hinein, und ich denke, dass das Gesicht eines Menschen eine Art Lichtung ist, eine Waldlichtung. Jede Bitte und jede Hoffnung, jede Furcht und auch jedes heimliche Vergnügen, jede Kindheitsfreude zeigt sich auf dem Gesicht, wenn man aus dem Dickicht auf die Lichtung tritt, weil jemand Ja gesagt hat.
    »Ich habe noch genau eine halbe Stunde Zeit. Ich schätze, wir sollten eine Stippvisite ins Ateneum machen und diese langweiligen Gemälde anschauen, bevor meine Schicht beginnt. Wenn du meine Heimat tatsächlich sehen willst.«
    Wir steigen die knarrenden Treppen in den zweiten Stock, ich gehe vorneweg. Als ich mich

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