Wahr
Herbst wartet auf die Gnade des Winters. Ich bin glücklich, und mein Glück ist neu. Es gründet auf der sonderbaren Übereinkunft, die der Mann und ich im Laufe der Wochen und Monate treffen: Sobald Elsa fort ist, habe ich eine Familie. Ich lerne sie erst kennen, aber ich liebe sie längst.
Es gibt zwei Wahrheiten. In der einen bin ich Studentin der Romanistik, kaufe Brot vom Vortag und trinke billigen Wein. In dieser Version bin ich die Eeva, die über Wiesen gerannt ist und Zaubersprüche aufgesagt hat, die von ihrer Mutter getadelt wurde und sich bei der Schulweihnachtsfeier in den Jungen verliebt hat, der kein Geschenk bekam, denn sie kannte noch nicht den Unterschied zwischen Mitleid und Liebe.
Und dann gibt es die andere Wahrheit, diese andere Frau, die zwar den Namen der ersten trägt und durchaus an die Romanistikstudentin erinnert. Aber die Frau aus dieser Wahrheit ist vitaler als die, die auf einer Wiese ihre Zaubersprüche aufsagt. In der zweiten Wahrheit hat Eeva eine Tochter und einen Mann, hat die Wände einer großen Wohnung und Nächte, in denen sie sich neben den Mann legt. Diese zweite Wahrheit hat klare Grenzen. Sobald Elsa von ihren Reisen zurückkehrt, wird sie beendet und bewahrt, wartet auf die nächste Reise. Diese Wahrheit ist eher eine Traumwelt, und Eeva ist eine Frau der Träume – auch wenn ich mich zu dieser Zeit noch nicht so bezeichnen würde.
Noch hegt Elsa kein Misstrauen. Noch werde ich nicht zwischen den beiden Welten aufgerieben. Und noch ist der Mann nicht krank vor Schuldgefühlen, stellt das Mädchen keine verschämten Fragen, was mit mir und seinem Vater ist.
Die Schwelle zwischen den beiden Wahrheiten sieht immer gleich aus. Am Abend, bevor Elsa zurückkommt, betrachten der Mann und ich uns, als seien wir gerade erst aufgewacht. Wir wissen, was auf uns zukommt, und bereiten uns auf Elsas Ankunft vor, indem wir uns nicht mehr berühren, höflicher und vorsichtiger werden.
Sie kehrt meist montags zurück, und schon den ganzen Sonntagnachmittag verabschiede ich mich.
»Wohin gehst du, wenn du ausziehst?«, fragt das Mäd chen, als ich meinen Koffer packe; Blusen, Röcke, Strumpf hosen.
»Ich gehe nach Hause.«
»Kannst du nicht bleiben?«
»Ich bin bald wieder da«, sage ich.
Ella nickt, löst die Hand von meinem Rocksaum.
Wenn Elsa kommt, lächle ich an der Kaffeetafel, erzähle von den neuen Wörtern des Mädchens und dass es am ersten Abend geweint hat, sich aber beruhigen ließ, dass es auf dem Spielplatz einen Jungen gehauen hat und ich ihm den Unterschied zwischen Gut und Böse erklärt habe.
Wenn der Mann und ich gleichzeitig aus dem Fenster schauen, sagt einer von uns etwas über das flammende Herbstlaub. Er gibt Elsa einen Kuss, und ich schaffe es nicht, meinen Blick abzuwenden. Ich gieße Elsa Kaffee ein, denn ich habe in den vergangenen Tagen gelernt, die Rolle der Hausfrau zu spielen. Aber meine Hand zittert.
Dann nehme ich meine wenigen Sachen und fahre mit der Straßenbahn in die Liisankatu. Ich packe den Koffer aus, setze mich aufs Bett und weiß nichts mit mir anzufangen. Draußen beginnt der Abend. Das Bett gehört Kerttus Großtante, der schwere Schrank in der Ecke ist vollgestopft mit überflüssiger Kleidung, die Wanduhr im Wohnzimmer wird in wenigen Minuten schlagen, gleich kommt die Nacht und die letzte Straßenbahn rumpelt vorbei, und ich schlafe mit dem Gewicht seiner Hand auf meinen Rippen ein, wie mit einem leisen, schönen Phantomschmerz.
Ich setze mein anderes Leben fort, treffe ab und zu einen jungen Mann, gehe aus, schreibe meine Klausuren, wie es sich gehört. Noch vermisse ich nichts.
»Ach, Mama«, seufzt das Mädchen, nachdem ich gegangen bin.
Ella freut sich, dass ihre Mutter wieder da ist. Für sie ist die Welt unkompliziert: Die eine geht, die andere kommt.
»Du magst Eeva wohl, hm?«
»Ja«, antwortet sie.
Sie setzt sich auf den Schoß ihrer Mutter.
»Mama, du warst so lange weg«, flüstert sie plötzlich, weint ein paar Tränen in Elsas Bluse.
»Oh weh«, sagt Elsa ergriffen. »Mamas Schatz.« Sie gibt ihrer Tochter einen Kuss.
Am Abend bringt sie sie ins Bett und liest ihr ein Märchen vor. Der Mann küsst sie von hinten auf den Hals. Er verspürt Reue. Schuldgefühle breiten sich in ihm aus, er versucht mit Zärtlichkeit zu verdecken, was er in Elsas Abwesenheit getan hat. Zwanghaft muss er an mich denken, wie ich meine Beine um ihn geschlungen habe.
Auf einmal wundert er sich über sein Verlangen nach
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