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Wahr

Wahr

Titel: Wahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Riikka Pulkkinen
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Büschen verschmolzen ist.
    »Morgen reiße ich den alten Boden raus, und du räumst den Schuppen auf«, sagt Matias. Er sieht zufrieden aus, wie viele Männer, die von morgens bis abends Kopfarbeit leisten und beim Handwerkern verborgene Talente entdecken dürfen.
    »Das machst du bitte nicht allein. Warte, bis mein Vater kommt.«
    Sie haben vereinbart, dass ihre Eltern und Maria morgen dazustoßen. Auch ihre Großeltern wollen anreisen, wenn der Zustand ihrer Großmutter es erlaubt. Anna hört aus ihrem Befehlssatz ihre Mutter heraus, die Art, wie sie mit ihrem Vater redet. Eigentlich hat sie diesen Ton immer verabscheut, jetzt bereitet er ihr insgeheim Vergnügen. Sie ist ihrer Mutter erstaunlich ähnlich, und es erschreckt sie überhaupt nicht.
    »Ich schaff das schon«, protestiert Matias. »Und wenn dein Vater morgen ankommt, können wir gleich die neuen Bretter draufnageln.«
    »Wenn’s gar nicht anders geht«, sagt Anna, spielt die Märtyrerin, fühlt sich gut damit.
    Ihr Vater hat die Renovierung der Saunaveranda vor einer Woche mit Matias besprochen, sie standen im Flur und fachsimpelten. Anna überlegte kurz, ob ihr Vater vielleicht lieber einen Sohn gehabt hätte. Mit Matias kann er über Bretterstärken, Eisennägel und Schlagbohrer sprechen, auf den See blicken und wie nebenbei sagen: »Im Kühlfach ist Bier, nimm dir eins, wenn du willst.«
    Guter Wille umgibt sie, während sie in der Sauna sitzen, die Sätze des Streits verdampfen mit den Aufgüssen. Nachher cremt Matias ihren Rücken ein, tröpfelt die Aprikosenmilch auch auf ihre Beine, und eins führt zum anderen, wie sie es schon erwartet haben.
    Über den Rasen zieht Nebel, Anna sieht kurz zu den wabernden Schwaden, ehe sie sich auf die etwas feuchte Leinendecke legt. Matias dringt erregt und behutsam in sie ein. Es fühlt sich an, als wären sie zwei andere Menschen. Zwei, die sich zum ersten Mal begegnen. Anna ist leidenschaftlicher als zu Hause, Matias ist zärtlich und ernst.
    Was wohl der Polartaucher und die Amsel denken, wenn sie das hören, fragt sich Anna, ehe sie oben ankommt, zugleich aufsteigt und fällt.
    Später sitzen sie auf der Veranda, Matias zupft auf der Gitarre. Anna trinkt spanisches Sol-Bier aus der Flasche, hat die Knie an die Brust gezogen. Die Luft ist etwas kühl, aber noch geht es. Sie liest eine alte Klatschzeitung, die sie in einer Schublade gefunden hat. Ein Schriftsteller in mittleren Jahren und eine Schlagersängerin plaudern über ihr neues Glück.
    Anna zitiert den Schriftsteller: »Endlich weiß ich, was Liebe ist.«
    »Aus welchem Jahr ist das?«
    »Siebenundneunzig.«
    »Und, verrät er es?«
    »Was?«
    »Was Liebe ist.«
    »Nein.«
    Der Morgen ist verregnet. Die Wolken hängen schwer und übellaunig in den Wipfeln der Bäume, die Amsel ist verschwunden. Matias zieht seine alte Jeans an und trägt das Werkzeug zur Sauna. Anna folgt ihm, schaut kurz seinen heiteren Handgriffen zu. Sie geht den Pfad zum Schuppen hoch, öffnet die Tür. Derselbe Geruch, die Kohlezeichnungen auf dem Regal, die Vorskizze auf der Staffelei. Wo soll sie nur anfangen? Als Erstes räumt sie Kartons, Farbdosen und Gartenwerkzeug aus dem Weg. Dann entdeckt sie das Apfelsinenbild. Es ist nicht ganz vollendet und wirkt auf den ersten Blick fast alltäglich, weshalb sie es beinahe übersieht. Aber vor ihr sitzt sie selbst als Kind, mit all dem künftigen Ernst in den Zügen, mit dicken Haaren, dunklen Augen. Ein deutliches Gefühl beschleicht Anna: Auf einmal ist sie sich sicher, dass sie ohne dieses Bild nicht weiterleben kann. Sie muss es mit nach Hause nehmen und aufhängen. Das alte Foto, das geschmacklose Aino-Imitat, wird in der Abstellkammer verstauben müssen. Das Bild ist wie eine Verdichtung ihrer selbst. Es birgt alles, was sie als Kind war, und auch das, was erst im Entstehen ist. Wenn dieses Bild in Tammilehto bleibt, spontanen Besuchen von Nagetieren ausgesetzt ist, dann bleibt auch sie selbst hier. Oder noch schlimmer: Sie bleibt in ihrer Kindheit, bleibt in den gestaltlosen Wünschen und Ängsten stecken, die sie nicht benennen konnte und die sie gerade deshalb beherrschten.
    Sie trägt das Bild vorsichtig durch das Gerümpel, lehnt es an die Bretterwand. Von Nahem sieht man, dass ihr Großvater hohe Sorgfalt auf die Farbmischung in ihren Augen verwendet hat, um den speziellen dunklen Ton zu erreichen. Vielleicht hat er noch etwas anderes als gewöhnliche Ölfarbe benutzt. Darin war er sehr erfinderisch, gab mal Asche oder

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