Wahr
Sägemehl, mal feine Aluminiumspäne oder sogar Silber mit ins Bild. Anna gefällt der Gedanke, dass er ein wenig Silber eingearbeitet hat – dort, wo ihre Augen Hoffnung ausdrücken, wo all das enthalten ist, was bereits in einem Kind steckt, aber noch nicht Wirklichkeit geworden ist.
Wenn Anna sich richtig anstrengt, erinnert sie sich sogar daran, was sie an dem Tag gedacht hat, als ihr Großvater sie malte: Sie fasste den altklugen Beschluss, nie wieder zu lügen, denn sie hatte gerade ihren ersten Hausarrest bekommen, weil sie Maria beschummelt hatte. Sie hatte ihrer kleinen Schwester von Kidnappern erzählt, die in roten Autos vorfuhren und Kinder mitnahmen, woraufhin sich Maria für den Rest des Tages unter dem Bett versteckte. Nach dem Porträtsitzen war sie mit ihrem Großvater auf ein Eis im Café Fazer gewesen und hatte daher mittags keinen Appetit auf Fleischklopse – sie erinnerte sich verblüffend gut an dieses Essen, den Ketchup dazu und die tickende Uhr an der Wand –, danach legte sie sich auf den Wohnzimmerteppich und las Tim und Struppi . Ein ganz normaler Tag, an dem dieses Urbild eines Kindes entstand, seiner Freuden und Ängste, die sich in Spiele und gesummte Melodien kleideten.
Anna beschließt, das Bild notfalls heimlich mitzunehmen. Sie wird es rahmen lassen und an die Wand hängen. Es kommt ihr vor, als würde dieses Bild mehr beinhalten, als sie je zu sein vermag.
»Wollen wir was essen?«, fragt Matias. Er ist verschwitzt, hat innerhalb weniger Stunden die Ausstrahlung eines sorglosen Handwerkers angenommen.
Anna geht auf ihn zu und küsst ihn. »Du hast schon genug?«, fragt sie.
»Noch lange nicht«, antwortet er und lacht. »Ich muss auch ein Stück von der Wand abreißen, und das dauert, weil die mit alten Zeitungen isoliert ist. Die Hälfte der Zeit lese ich sie, unglaublich, was die früher als Journalismus bezeichnet haben.«
Anna kneift ihn liebevoll. »Das muss ich mir merken: Stell nie einen Historiker ein, wenn alte Sachen abgerissen werden.«
»Wurde eigentlich damals, als das Sommerhaus gebrannt hat, auch die Sauna renoviert? Die Zeitungen sind alle von Ende neunzehnhundertsiebzig. In welchem Jahr war der Brand genau?«
»August sechsundsiebzig. Das mit der Renovierung weiß ich nicht, da musst du meine Großeltern fragen, vielleicht haben sie damals beschlossen, gleich alles auf einen Streich zu erneuern.«
Matias sieht das Apfelsinenbild. »Das bist doch du, oder? Das ist ja fast dasselbe Bild wie bei deinen Eltern. Gehören die zusammen?«
»Ja. Ich habe Großvater schon hundert Mal gefragt, wo das zweite Bild ist, und nun habe ich es gefunden. Es ist nicht ganz vollendet, aber ich würde es trotzdem gern rahmen lassen.«
»Und bei uns aufhängen?«
»Ja, oder hast du was dagegen?«
Anna beobachtet, wie Matias das Bild mustert.
Ist es gut? Ist es unausgegoren, dominant oder womöglich so plakativ wie das Aino-Foto? Oder will er vielleicht nur vermeiden, täglich seine Freundin an der Wand zu sehen, die mit traurigem Blick das Geschehen in der Wohnung verfolgt? Eine sechsjährige Beobachterin, die die Wahrheit verdreht und Geschichten erspinnt?
»Warum nicht«, sagt er schließlich. »Lass es uns gleich Sonntag mit in die Stadt nehmen. Sofern dein Großvater einverstanden ist.«
»Natürlich ist er einverstanden«, erwidert Anna.
13.
ER WAR AUFGEREGT . Zuletzt waren sie im Herbst hier gewesen, da war Elsa offiziell noch gesund und voll bei Kräften.
»Sollen wir Wasser kaufen?«, fragte er, nur um etwas zu sagen.
Ein seltsames Gefühl, im Beisein der eigenen Ehefrau nervös zu sein. Als würde eine sehr alte Erfahrung wiederbelebt, über fünfzig Jahre alt. Am Tag seiner ersten Verabredung mit Elsa hatte er Elvis gehört; er erinnerte sich genau an das Stück, an die Nervosität. Seine Hände umklammerten das Lenkrad, fünfzig Jahre schmolzen fort.
»Wozu? Mit der Wasserleitung ist garantiert alles in Ordnung.«
Er sah Elsa verstohlen an, sie wandte ihm das Gesicht zu. Ein vorsichtiges Lächeln. »Du sagst Bescheid, wenn du müde wirst?«
»Ja, ja.«
Er bog in die Auffahrt und freute sich, dass keine Autos im Garten standen; Anna und Matias waren einkaufen, Eleonoora, Eero und Maria schienen noch nicht eingetroffen zu sein. Elsa und er durften einen Moment für sich allein genießen.
Es hatte geregnet, das Laub der Bäume trug die Tropfen, als hätte es tiefere Einsicht in seine Frische spendende Aufgabe. Elsa stieg bedächtig aus, tastete erst
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