Wahr
Vielmehr ging es um mich – ich würde schlechter damit fertig werden. Vielleicht stand das von Anfang an fest. Sie würde diejenige sein, die die Trauer in mein Gesicht zeichnete. Sie würde diejenige sein, deren Verschwinden mich so kraftlos zurückließ, dass ich tagelang regungslos auf dem Fußboden lag, unfähig aufzustehen.
»Gekritzel«, sagte Anna.
Matias sah sie starr an, versuchte zu verstehen. »Und wieso kommt es mir vor, als hättest du das absichtlich hier liegen lassen?«
»Und wieso spielst du Polizei? Ich darf doch wohl schreiben, was ich will.«
»Ich denke, du hast das extra liegen lassen. Weil du wolltest, dass ich das lese. Es lag offen auf dem Tisch. Das ist kein Zufall.«
»Hör auf zu faseln. Außerdem hast du kein Recht, meine Sachen zu lesen.«
»Das lag auf unserem gemeinsamen Schreibtisch! Jetzt behaupte nicht, dir war nicht klar, dass ich das finde.«
»Trotzdem. Man liest nicht in den Tagebüchern anderer Leute.«
Matias sah sie eindringlich an. »Jetzt ist es plötzlich dein Tagebuch? Eben war es noch Gekritzel.«
»Das kommt aufs Gleiche raus.«
»Aber es hat damit zu tun, was in deiner früheren Beziehung passiert ist! Worüber du nie redest.«
»Anscheinend dreht sich deine Phantasie nur um meine früheren Beziehungen. Komm endlich drüber weg.«
Matias lachte auf. »Du bist diejenige, die nicht drüber wegkommt.«
»Du hast das Thema aufgebracht.«
»Weil du nie was davon erzählst. Ich finde das komisch.«
»Was soll ich dir denn erzählen? Wieso soll man dem neuen Freund von dem alten erzählen? Willst du die Einträge in meinem Kalender vom letzten Jahr sehen und vom vorletzten und nachgucken, mit wem ich im Januar vor zwei Jahren Kaffeetrinken war? Was willst du eigentlich wissen?«
Matias zuckt mit den Schultern. »Das weißt du selbst. Sag Bescheid, wenn du mir was erzählen willst.«Er legte das Papier zurück auf den Schreibtisch, es lag zwischen ihnen. Anna wandte den Blick ab.
Jetzt legt Matias seine Hand erneut auf ihren Schenkel, lässt sie dort liegen. Eine Versöhnungsgeste.
»Wollen wir beim Prisma-Markt halten?«, fragt er und sieht sie zärtlich an.
»Ja.«
Auf dem Parkplatz denkt sie, dass sie für immer da bleiben könnte, an seiner Seite. Sie sieht ihr gemeinsames Leben: Vor ihnen hüpfen die Kinder auf den Eingang zu, kreischen, verlangen ein Eis. Normale Augenblicke, ohne Sorgen, wenn auch nicht solche, die man als Teenager für die Glücksbausteine der eigenen Zukunft hielt. Augenblicke, in denen auch Langeweile vorkommt, die mit dem Wort Glück wenig zu tun haben. Sie weiß, dass ihr das Wort Glück irgendwann anmaßend und kindisch vorkommen wird, dann, wenn sie diese anderen Augenblicke kennt, die eher an ein alltäglicheres Wort geknüpft sind, das nur vermeintlich flach ist: Zufriedenheit.
Matias und sie teilen eine heimliche Schwäche für den Prisma-Markt. Sie mögen die riesigen Einkaufswagen, die sich wie Schiffe durch die Gänge bewegen. Sie mögen die riesigen Obstberge. Und ihre Spontankäufe, Hulahoop reifen und hummerförmige Grillhandschuhe. Sie mögen die rührenden Warenmassen großer Familien, die in aller Seelenruhe zehn Liter fettarme Milch und zwei Lagen Joghurt aufs Kassenband legen, obendrein tragen alle Familienmitglieder Crogs.
Anna entscheidet sich an der Fischtheke für eine Renke. Etwas träge wandern sie zwischen den Regalen umher, legen Gemüse für den Grill in ihren Wagen, Kohle , Anzünder, Marshmallows, Eis.
Das Eis schmilzt in ihren Schüsseln, sie sitzen einander auf der Veranda gegenüber. Leicht zerstreut sprechen sie über den Film Elf Uhr nachts von Godard, den sie letzte Woche im Programmkino gesehen haben. Matias fand ihn fragmentarisch und pseudokünstlerisch, Saara chauvinistisch.
»So ein Frauenbild!«, hatte sie ungläubig gerufen, »nichts als launische Prinzessinnen!«
Anna hängt ein bestimmter Satz im Kopf, den sie sich merken möchte: Wir sind aus Schlaf gemacht und der Schlaf aus uns.
Anna ist nicht klar, ob sich der Satz auf die Frau bezieht, die der Mann einfach nicht versteht, auf die Zeit, in der der Film spielt, auf Träume, ohne die der Mensch nicht leben kann, oder die gesamte Realität, auf alles, was zwischen Menschen stattfindet.
Ein unerwartet wohliges Gefühl durchströmt Anna, sie ist vollkommen sie selbst und zugleich ein bisschen wie jemand anderes. Die Amsel singt wie eine alte Bekannte, lauter als zuletzt, obwohl ihre Silhouette in der Dämmerung schon mit den
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