Wahr
lauter und mindestens zwei Töne höher.
Irgendetwas in mir bricht fast zusammen, ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich bin nicht genug. Alle Gespenster und Wahnvorstellungen von früher kehren zurück, wieder wache ich als Kind im Dunkeln auf und spüre die eigenen Grenzen nicht mehr.
Ich schiebe die Panik beiseite. Vorwärts. Ich finde die richtigen Worte. »Lässt du mich mal pusten?« Ich strecke die Hand aus.
Sie robbt näher, setzt sich neben mich, will noch nicht auf meinen Schoß.
»Komm her.«
Ich lege einen Arm um sie. Dann beide. Ihr kleiner Körper ist erhitzt, der Schreck hat ihr den Schweiß auf die Stirn getrieben. Die Beule leuchtet rot, unter der Haut zeichnet sich wie ein Spinnennetz eine bläuliche Äderung ab.
Mir fällt der Spruch ein, den meine Mutter in solchen Situationen aufgesagt hat. Die Worte strömen aus längst verheilten Wunden zu mir, liegen vor mir in der Luft. Das Mädchen lauscht aufmerksam. Ich puste, flüstere den Spruch mehrere Male in ihr Ohr, wie früher meine Mutter mir.
Das Weinen versiegt. Auf ihren Wangen glänzen matt die Spuren der Tränen. Ella ist ganz ruhig, starrt in die Luft, dann in die Ecke, lehnt ihren Kopf vorsichtig an meine Brust. Schwer ist sie, wird immer schwerer auf meinen Schoß, je mehr Gewicht sie an mich abgibt. Wenn dieses Gefühl eine Farbe hätte, wäre es Gelb, mit ein wenig Blau in einer Ecke.
Ich erinnere mich an das Lächeln meiner Mutter, wenn ich auf ihrem Schoß saß und sie mich tröstete. Damals sah ich das Gefühl von außen und wusste nicht, dass es sich so anfühlt. So voll. Etwas bewegt sich in mir. Ich bin von innen größer und leuchtender als je zuvor.
12.
SIE FAHREN DURCH die Landschaft. Ab und zu legt Matias seine Hand auf Annas Oberschenkel.
Bevor sie aufbrachen, hatten sie einen eigenartigen Streit. Auch im Auto lauern die Sätze noch über ihnen. Schon Tage vorher war die Frustration in Anna aufgekeimt: Sie zeigte sich in gereizten Reaktionen auf Matias’ Sätze, auf seine Gesten, die Art, wie er sich die Socken auszog – er bog den Spann und die Zehen nach unten, streifte das Bündchen über den Hacken und schleuderte so erst einen, dann den anderen Socken ins Zimmer –, oder auf sein gedehntes »Mmmmh«, wenn er seine Hand auf ihrem Bauch nach unten schob, als wäre er immer wieder aufs Neue perplex, dort irgendwann auf eine behaarte Zone zu stoßen.
»Was ist das hier?«, fragte Matias plötzlich, als Anna gerade die Reisetasche packte.
Sie sah auf. Matias wedelte mit einem bedruckten Stück Papier.
»Keine Ahnung«, erwiderte Anna.
»Es lag auf dem Tisch. Hast du das geschrieben?«
»Nein«, antwortete sie ohne nachzudenken. »Doch«, sagte sie dann. »Wer denn sonst.«
»Ich habe es gelesen«, sagte Matias.
»Wieso? Gib her.«
Er hielt die Seite in die Luft, sah sie herausfordernd an. In seinem Blick lag Spott oder irgendetwas Verwandtes. Wieso Spott? Eigentlich war Matias ein ernster Charakter. So hatte sie ihn noch nicht erlebt hatte, so böse. Sie schnappte ihm die Seite aus der Hand und erkannte den Text sofort, begann zu lesen.
Als ich Linda zum ersten Mal sah, war ich nicht unvorbereitet. Der Mann hatte sich mit einer beruflichen Verpflichtung in der Zeit geirrt und musste arbeiten, ich hatte angeboten, zu helfen und zwei Stunden auf seine Tochter aufzupassen. Die beiden standen vor der Tür, Linda trug einen Rucksack. Schon lange hatte ich kein kleines Kind mehr von so nahem gesehen. Rein ist das Wort, das mir als Erstes in den Sinn kam, aber nicht als Gegenteil von schmutzig, sondern neu, unbeschadet. Ihre Wimpern waren erstaunlich lang, die Augenlider prall und leicht dick, die Nase sah weich aus, erhob sich aus dem Gesicht wie eine reife Beere. Sie hatte etliche eigene Gesichtsausdrücke, nur die Trauer hatte sich in diesem Gesicht noch keine Form gesucht, das sah ich genau. Eine eigenartige Beobachtung: Die Abwesenheit von etwas festzustellen, das ganz gewiss noch kommen wird.
»Gib ihr Brot und Saft, bitte keine Süßigkeiten«, sagte der Mann. »Spiel mit ihr, geh mit ihr in den Park.«
So machte ich es. Beim Überqueren der Straße dachte ich, dass ich mit ihr in einen Hauseingang fliehen sollte, damit ich sie keiner Gefahr aussetze, die Unbeschadetheit ihres Gesichts nicht zerstöre. Aber Linda stoppte den Anflug von Panik, indem sie ihre Hand in meine schob. Ganz einfach. Ihr Vertrauen weckte mein Vertrauen.
Als alles vorbei war, begriff ich, dass sie damit fertig werden würde.
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