Wahr
Sonne sinkt, die Leute kommen von der Arbeit. Die Straßenbahnwagen sind voller kleiner Hoffnungen für den Abend, und ich fühle mich nicht mehr kränklich. Im Wohnzimmer knallt laut ein Scheit im Ofen, Tannenholz. Mein Vater sagt immer, dass Tanne kein gutes Brennholz ist, zu viel Harz. Ich aber mag dieses Knallen, das wie ein Startschuss klingt, das die Zeit in das Vergangene teilt und in das Neue, für das es noch keine feste Form gibt.
Als er fort ist, setze ich mich auf die Fensterbank. Ich habe ihn um eine Zigarette gebeten, die ich jetzt rauche, obwohl ich husten muss. Die frische Herbstluft strömt ins Zimmer, ich kriege Gänsehaut. Noch ist die Dunkelheit nicht da – ich bleibe sitzen, bis sie kommt. Ich nehme die Liebe an. Ich will sie, und ich nehme sie mir. Und noch ein zweites Gefühl regt sich, während ich am offenen Fenster sitze. Es ist mit der Ängstlichkeit verbunden, die sich so oft hinter Liebe verbirgt. Das Gefühl bezieht sich auf Elsa, und es heißt Schuld.
Nach diesem ersten Mal treffen wir uns auch in den Wochen, in denen Elsa zu Hause ist. Er kommt nachmittags zu mir und bleibt zwei Stunden, manchmal drei. Die Wände der Wohnung sind die Grenzen unserer Welt, nur selten verlassen wir sie und gehen nach draußen. Er bringt mir weiterhin Zimtschnecken mit, manchmal frisches Brot. Unsere Zusammenkünfte sind wie Wanderungen, wir dehnen die vor uns liegenden Stunden von innen her aus, kochen kräftigen Kaffee, streichen Butter auf frisches Brot mit harter Kruste, schließen uns in meinem Zimmer ein. Die Zeit entgleitet uns vollständig, tröpfelt durch den Spalt unter meiner Zimmertür hindurch, während wir ineinandergleiten. Die Liebe zu ihm ist eins der neuen Elemente in meinem Leben. Das zweite, das sich verborgener einfindet, ist die Liebe zu dem Mädchen.
Als der Herbst zu Ende ist, kenne ich Ella schon recht gut. Sie kratzt sich den Schorf ab, sobald ihre Wunden zu heilen beginnen. Sie jammert, wenn sie müde ist, tritt sogar nach mir. Manchmal ist sie so unbeherrscht, dass ich Verbote aussprechen muss. Beim ersten Mal bekommt sie einen Wutanfall, woraufhin auch ich wütend werde. Anschließend gehe ich ins Badezimmer und weine. Aber sie akzeptiert mich trotz meiner Verbote, vielleicht sogar gerade wegen meines klaren Neins, denn sie kann dessen Festigkeit und Position testen und spürt, dass mein Nein eine Wand ist, immer gleich dick, an jeder Stelle.
Schon nach den ersten Wochen möchte sie, dass ich sie ins Bett bringe und neben ihr liege, wenn sie einschläft. Der Übergang in den Schlaf erfolgt meist schnell und überraschend, wie schon beim allerersten Mal, als sie auf meinem Schoß eingeschlafen ist. Vorher verlangt sie noch eine letzte Geschichte, obwohl sie bereits dösig ist. Satz für Satz erfinde ich eine, schaue gleichzeitig zu, wie sie immer weiter in den Schlaf sinkt, noch einmal aufschaut und prüft, ob ich wirklich da bin. Und ich erzähle weiter und versichere ihr damit, dass ich nicht weggehe, dass ich noch immer neben ihr bin.
An einem winterlichen Abend Ende Oktober verletzt sich das Mädchen. Der Mann ist oben in seinem Atelier, wir spielen in der Wohnung Fangen. Das lustigste Spiel, das das Mädchen kennt: Ein ums andere Mal entwischt es mir, kreischt auf, kurz bevor ich es einhole, kichert die ganze Zeit.
Nachdem Ella mir dutzendfach entkommen ist, stolpert sie bei einem neuen Versuch über die Türschwelle. Sie knallt bäuchlings auf den Boden, prallt mit dem Kopf gegen die Kante der geöffneten Tür.
»Oh je«, sage ich.
Erst ist sie still. Zwei, drei Sekunden. Dann steht sie auf, mit verlegenem Gesicht. Sie wird nicht weinen, denke ich.
»Hat es weh getan?«, frage ich noch, da schüttelt sie den Kopf – und weint bereits los.
Erst heiser verhalten, bis es zu einem hohen Brüllen anwächst, das nur zum Luftschnappen kurz abbricht. Ich erinnere mich an mein eigenes Kinderheulen und wie es sich anfühlt, wenn das Gesicht mit Rotz verschmiert ist, man kaum Luft kriegt und panische Angst hat, dass nichts wieder gut werden wird. Das Mädchen rennt weg, verkriecht sich im Spalt zwischen Kommode und Heizung und heult wie eine Sirene. Ich gehe zu ihm, will es berühren, doch es schlägt meine Hand fort.
»Mein Schatz. Wo tut es denn weh?«, frage ich.
Da sehe ich die Beule auf Ellas Stirn anschwellen.
»Mama. Ich will Mama!«, sagt sie.
»Deine Mutter ist nicht hier.«
»Wo ist sie?«
»Auf einer Reise. Aber ich bin hier.«
Ihr Geheul wird noch
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