Wahr
sie mit einem Lachen in der Stimme.
Es war, als würde er zum ersten Mal einen Menschen malen. Obwohl gerade dieser Mensch vertraut war, sogar der vertrauteste von allen. Er nahm einen Stift, skizzierte die Umrisse. Die Neigung des Halses, die Kopfform und die Nase gelangen ihm mühelos. Die Jahre hatten sich in sie gegraben, er brachte sie alle mit ins Bild.
»Etwas nach links.«
»So?«
»Ja, gut.«
Er erinnerte sich, wie er einmal die Haushaltshilfe seiner Eltern gemalt hatte. Hilja, beim Abwaschen und Kartoffelschälen. Dabei hatte er auf dem Küchenhocker gesessen, ab und zu in sein Butterbrot gebissen, Milch getrunken und mit ihr geredet, wie es eben zwischen ihnen üblich war.
Hilja war achtzehn, er vierzehn. Sie war eine Frau, die vermutlich mehrere Verehrer hatte, ein eigenes Leben neben der Küchenarbeit. Er war nur ein Schuljunge.
Er hatte Hiljas Brust und ihre Arme gemalt, die nicht zierlich, sondern muskulös waren und gerade deshalb schön, das Kinn eher kräftig; es war die Partie, die Hilja ein wenig jungenhaft aussehen ließ. Er brachte die weiblichen Hüften aufs Papier, die leicht gebeugte Haltung über der Spüle. Natürlich versuchte er den Gestus der Jahrhundertwendekunst zu treffen: die Frau bei der Arbeit. Er hatte schon gelernt, dass außergewöhnliche Kunst gerade dann entstand, wenn man die Wahrheit ohne jede Beschönigung einfing, ohne Idealisierung, mitsamt den Fehlern.
»Du bist wirklich gut«, hatte Hilja gesagt. Und hinzugefügt: »Schau an, mein Junge. Wusste ich doch, dass du hinter deinen hübschen Augen von etwas träumst.«
Er sah, dass Elsa ihn beobachtete.
»Hast du schon angefangen?«, fragte sie.
»Gedulde dich«, sagte er liebevoll, »oder ich muss zwei Kekse vom Sitzungshonorar abziehen.«
Elsa schwieg, um ihren Mund spielte ein Lächeln. Sie sah aus dem Fenster. »Du hättest mich eher malen können«, sagte sie. Weder anklagend noch enttäuscht, nur als ruhige Feststellung.
»Wenn ich tot bin, werden sie das Bild ausstellen, sogar die Vorskizzen, die kaufen dir alles weg. ›Warum haben Sie einen leeren Kartoffelsack gemalt?‹, wird es heißen, ›was wollen Sie damit sagen?‹, ›Das ist bestimmt eine Allegorie auf die Gesellschaft, die Kluft zwischen Viel- und Niedrigverdienern.‹ Und du sagst: ›Das ist kein Sack, das ist meine Frau, und ich habe es geschafft, sie über fünfzig Jahre zu lieben.‹ Dann gibt es Kaffee und Käsekuchen und die Leute wundern sich munter weiter: ›Der hat fünfzig Jahre lang eine Frau geliebt, die aussieht wie ein Kartoffelsack?!‹ Und irgendein besonders Schlauer hält an seiner Theorie fest: ›Ich glaube nicht, dass er wirklich seine Frau gemeint hat. Er will den Übergang von der agraren zur urbanen Gesellschaft zeigen. Die Urbanisierung, das ist sein Thema, ich sage es euch. Er verbildlicht die Schmerzen dieses Übergangs anhand einer sackartigen Frau.‹ Es wäre also besser gewesen, wenn du mich gemalt hättest, als ich vorteilhafter aussah. Du hättest dir eine Menge Fehlinterpretationen erspart.«
»Jetzt mal bitte Ruhe da drüben«, sagte er zärtlich.
Elsa lachte über ihre eigenen Ideen. Martti griff den typischen Ausdruck ihres Lachens auf. Jetzt sah er ihn, er hatte sich nie verändert. Ohne seine Finger besonders dirigieren zu müssen, brachte er diesen Ausdruck auf die Leinwand.
Elsa schaute zu ihm. »Ich mag es, wie du mich ansiehst«, sagte sie, »diesen Ausdruck in deinen Augen. Da komme ich mir vor, als hätte ich irgendein Geheimnis.«
Er lächelte. »Hast du ja auch.«
1966–1967
Anfang Dezember finde ich Molla in der Speisekammer. Ein Auge ist abgerissen.Die Puppe sitzt auf dem untersten Regal neben der Packung mit dem Gerstenmehl. Mit nur noch einem Knopf als Auge sieht sie mich erschrocken an. Um ihren Mund ist ein Kopftuch gewickelt, fest wie ein Knebel. Ihre Zöpfe sind mit Erdbeermarmelade beschmiert, an die sich ein paar Haferflocken geheftet haben. Die Marmelade klebt auch an der Mehlpackung, der Kaffeedose und auf dem Papier, das die Regale abdeckt. Das Mädchen hat das Helmi-Weizenpaket aufgerissen und Mollas Füße erst in die Marmelade, dann in die Körner getunkt. Jetzt hat die Puppe originelle Stiefel.
Ich nehme sie aus dem Regal, sie ist ganz schlaff vor Schreck, hat dort gehockt wie in einem Kerker. Und dennoch lächelt sie mit dem verbliebenen Auge, ihre schmierigen Zöpfe stehen trotz der Demütigung fröhlich vom Kopf ab, als wollten sie sagen, dass es genug Spaß
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