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Wahr

Wahr

Titel: Wahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Riikka Pulkkinen
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trage dieses Wissen den ganzen Herbst mit mir, während ich zugleich versuche, mein eigenes Leben zu leben. Ich trage es mit mir wie einen unhandlichen, nutzlosen und schweren Schatz. Was soll ich mit ihm anfangen? Ihn im Park verbuddeln? Am liebsten würde ich mit dem Wissen, wie er beim Lesen den großen Zeh krümmt, eine weite Reise machen. Ich würde es von einer Bergspitze schleudern und zusehen, wie es das Felsengeröll hinunterpoltert. Und das Wissen, wie er niest. Und wie das Mädchen kichert. Ich könnte die Erinnerung an sein Niesen und Ellas Kichern für eine Mark an irgendeinen Passanten verkaufen. Ich könnte sie an irgendeinem Samstag gegen eine Flasche Limonade eintauschen, denn es kommt mir so vor, als würden mich diese Erinne­rungen behindern und beschweren. Nein, nicht beschwe­ren – sie machen mich leicht, porös, beinahe durc hsichtig.

17.
    »UND DIE?«, FRAGT ihr Großvater und zeigt auf eine Frau, die mit ihrem Kind am Ende des Wagens steht.
    Er hatte sie angerufen, vom Wetter gesprochen und sie zu einer Straßenbahnfahrt eingeladen, ein wenig verlegen, so dass Anna ihn unterbrach und sofort antwortete, mit einem Lächeln in der Stimme: »Na, dann mal los.«
    Jetzt sitzen sie auf der hintersten Bank. Anna verweilt mit ihren Gedanken kurz bei dem Kind, schüttelt dann den Kopf. »Nein, sie ist Mutter, sie sieht glücklich aus. Da müsste irgendein kleiner Riss sein, und den möchte ich mir für sie nicht ausdenken. Sie soll glücklich bleiben.«
    Ihr Großvater nickt. »In Ordnung. Dann lass uns über die Liebe nachdenken«, sagt er ungeniert, als würde er über Käsesorten sprechen. Er legt seine Hände auf die Rückenlehne vor ihm, trommelt wie ein Klavierspieler mit den Fingern, schaut konzentriert zur Tür.
    Die Straßenbahn hält. Ein pubertierender Junge steigt ein, nach ihm zwei Frauen im mittleren Alter, eine mit dem Handy am Ohr. Ein Mann im Anzug mustert unruhig die anderen Fahrgäste, hat einen dreisten Vorschlag für seine Geschäftsverhandlung auf der Zunge.
    Ihr Großvater beugt sich zu ihr und flüstert belustigt, seine Enttäuschung dramatisierend: »Keine Liebe. Nicht ein Fünkchen! Nicht mal ein Anfang, oder meinetwegen auch ein Ende.«
    »Sollen wir aussteigen?«
    »Ich glaube, wir haben keine andere Wahl.«
    Sie verlassen die Straßenbahn.
    »Jetzt hab ich’s«, sagt ihr Großvater. »Die Liebe beginnt doch immer mit einem Eis.«
    »Wie originell.«
    »Dann beweis mir, dass es nicht stimmt.«
    »Okay. Du hast recht. Dann eben ein Eis.«
    Sie gehen zum nächsten Kiosk. Anna nimmt Schoko-Nuss und überredet ihren Großvater, die neue Ge­schmacks­richtung zu testen, Birne-Lakritz.
    Er sagt zur Verkäuferin: »Wegen ihr würde ich glatt Zwiebel-Eis essen. Sie braucht nur zu behaupten, dass das die beste Sorte des Sommers ist.«
    Er zieht mit einer großen Geste einen Schein aus seinem Portemonnaie und bezahlt. Sie setzen sich auf eine Bank.
    »Wetten, dass gleich etwas passiert?«, sagt er und probiert sein Eis. »Nicht übel.«
    »Dank mir bist du voll im Trend! Diese Sorte essen sonst nur die Sechzehnjährigen.«
    »Dann bin ich wohl ein richtig jugendlicher alter Knochen.«
    Fünf Minuten, zehn. Hundebesitzer, Jogger. Ein Vater mit Kind und Dreirad. Endlich ein Paar. Er hält sie nicht an der Hand, aber die Frau lächelt, der junge Mann erklärt ihr die Grundzüge der Haushaltspolitik.
    Ihr Großvater wirft ihr einen bedeutungsvollen Blick zu, eröffnet das Protokoll: »Die Liebe beginnt mit einem Eis und dem Wechsel der Zinssätze. Was sagst du dazu?«
    »Ist notiert. Die beiden heißen Rebekka und Aleksi. Zweiundzwanzig Jahre alt. Ihr drittes Treffen. Es geht bereits um Politik, aber geküsst haben sie sich noch nicht.«
    Ihr Großvater nickt. »Das dauert nicht mehr lange. Bald kommen die Tage, an denen sie sich wie tot fühlen, wenn sie den anderen nicht sehen.«
    »Und damit geht auch die Unsicherheit los. Die Eifersucht.«
    »Und der Streit. Einer sagt: Du engst mich ein. Und der andere: Deine Liebe ist armselig.«
    »Einer lässt Socken herumliegen, der andere Ge schirr.«
    »Und trotzdem denkt man, dass man ohne den anderen nicht leben kann, dass man sonst nur halb existiert, oder krank wird …« Ihr Großvater verstummt.
    Das Pärchen – Rebekka und Aleksi oder wie auch immer sie heißen – ist längst vorübergegangen. Ihr Großvater starrt auf das Kopfsteinpflaster. Die Sekunden vergehen. Ein Vogel, den Anna nicht kennt, erklärt mit drei kräftigen

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