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Wahr

Wahr

Titel: Wahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Riikka Pulkkinen
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gibt auf der Welt, zum Beispiel Schaumbäder und Lollis oder die Dezembersonne, die in diesem Moment den Garten in zwei Hälften teilt, eine dunkle und eine helle.
    Ich gehe ans Fenster.
    Die Kastanie streckt stumm und verschlafen ihre Zweige ins Winterlicht. Das Mädchen und seine Freundin Teija laufen kreischend von der Schaukel zum Teppichgerüst und zurück. Seit Tagen spielen sie dasselbe sonderbare Spiel. Das Mädchen ist gut darin, sich immer wieder neue Regeln auszudenken. Heute laufen sie im Zickzack, rufen dabei Bannsprüche und vertreiben böse Geister.
    Ich öffne das Fenster. Das Mädchen schickt Teija gerade auf die Schattenseite des Gartens und erklärt eine neue Spielvariante. Keiner darf die Kastanie berühren, aber man muss ganz nah an sie heran. So nah, dass man fast an die Rinde kommt, doch wenn man sie berührt, muss man bis zum Essen auf der Schattenseite bleiben. Oder sogar bis es Nacht wird. Oder noch länger. Ella erklärt die Regeln so aufgeregt, als würde sie die Befehle einer höheren Macht aus einem eben noch versiegelten Brief vorlesen.
    »Ella!«
    Sie hört mich nicht oder tut zumindest so. Mollas Marmeladenzöpfe hinterlassen Flecke auf meiner Bluse.
    »Ella, kommst du mal zu mir? Ich muss was mit dir besprechen!«
    Sie wendet sich ab, ihr weißer Nacken leuchtet unter dem Kopftuch hervor.
    »Eeva ruft nach dir«, sagt Teija.
    Sie redet einfach weiter. Dabei hat sie mich längst gehört.
    »Ella, du kommst jetzt rein!«
    Teija schaut Ella verunsichert an. Schließlich marschiert das Mädchen aufs Haus zu, reckt den Kopf nach vorn, wie immer, wenn es schmollt.
    Gepolter im Treppenhaus, nach ein paar Minuten sind beide Mädchen oben. Ich löse den Knebel von Mollas Mund, darunter verbirgt sich eine Wunde. Aus dem aufgerissenen Halbkreis ihrer Lippen quillt Füllwatte, als würde die fröhliche Molla schäumen. Ihr Mund und ihr Gesicht wurden mit einer Schere traktiert.
    Meine Hände zittern. Das Mädchen öffnet die Tür, bleibt auf der Schwelle stehen, sieht die Puppe an, dann mich. Ich drücke Molla fest an meine Brust, habe keine Ahnung, wer hier wem ein Schutzschild ist. Teija schaut mich über die Schulter des Mädchens hinweg erschrocken an.
    Ella sieht aus, als hätte jemand sie geschlagen. Sie brüllt los. »Molla gehört ins Regal!«
    »Du hast an ihr herumgeschnippelt, gib’s zu!«
    Sie antwortet nicht.
    »Wieso hast du das gemacht? Und sie in Essen getaucht?«
    Sie kriegt einen Wutanfall. Errötet innerhalb von Sekunden, läuft auf mich zu. Reißt mir die Puppe mit einem Ruck aus der Hand, rennt in die Küche. Ich stolpere hinterher. Sie setzt die Puppe wieder ins Regal, reißt ein neues Getreidepaket auf und schüttet die Körner über Molla aus.
    »Ella, stopp! Es reicht.« Ich zerre sie vom Regal weg. Sie schubst mich, hat erstaunlich viel Kraft, ich taumele rückwärts und stoße mir die Hüfte am Tisch. Mit zwei Schritten ist sie wieder bei der Puppe, greift zielsicher nach der Kaffeedose und kippt sie über ihr aus, grinst gehässig.
    »Ella!« Ich ziehe an ihren Haaren. Packe eine dicke Strähne und zerre, als würde ich Schnittlauch aus einem Beet reißen. Sie jault auf. Ich habe einen Fehler gemacht, und sie heult bereits, meine Entschuldigungen helfen nicht.
    Da landet ihre Faust in meinem Bauch. Ein kleiner ­unerwarteter Hammer, der mir den Atem raubt, ich schnappe nach Luft wie ein Neugeborenes. Sie hört auf zu heulen, sieht mich an. Staunt über ihre Kräfte, mustert mich interessiert. Dann setzt sie ihr Geheul fort. Sie geht zum Regal und reißt raus, was sie zu fassen bekommt. Ein Marmeladenglas zerschellt, eine Konserve rollt unter den Tisch. Molla schaut zu, über und über mit Nahrungsmitteln begossen, speit Füllwatte.
    Ich schnappe das Mädchen und umarme es, es schreit »Hilfe, Neinneinnein«. Das Nein hallt von den Wänden, flüchtet durch die Fenster. Ich lege meine Arme fester um Ellas Körper, klemme sie mit den Ellenbogen ein.
    »Sch«, flüstere ich. »Beruhige dich, es ist alles gut.«
    Sie strampelt und brüllt wie am Spieß. Ich erreiche sie nicht mehr, das Haareziehen hat sie in ein dunkles Loch befördert. Rotz rinnt in ihren Kragen, ihr Speichel bildet Blasen, die wie stille Rettungsraketen platzen.
    Teija steht an der Tür, sieht mich erschrocken an. Dann dreht sie sich um, knallt die Tür, rennt die Treppe hinunter. Ich kann mich jetzt nicht um sie kümmern, halte das Mädchen im Arm, es schreit noch immer. Trage es durch den Flur, es

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