Wahrheit (Krimipreis 2012)
tun.«
»Nun«, sagte Dove, »angenommen, wir wissen, wann das Mädchen eintraf …«
»Nehmen Sie gar nichts an. Es gibt schon zu viele Annahmen, Vermutungen. Weber soll herausfinden, wie man von der Müllbucht in das Apartment gelangt.«
In Gedanken versunken, fuhren sie los. An der ersten Kreuzung sagte Dove: »Warum haben Sie nach den Antennen gefragt, Chef?«
»Zuerst war es nur ein schwarzes Muskelauto. Jetzt hat es drei kurze Antennen.«
»Verstehe, Chef«, sagte Dove. »Das hat das Feld jedenfalls auf ein- oder zweitausend reduziert,«
Villanis Handy klingelte. Birkerts.
»Tomasic hat in Oakleigh Sachen gefunden. Willst du sie dir ansehen?«
»Oakleigh ist gegessen. Alle sind tot. Was macht er da?«
»Eine Wundertüte mit Erinnerungsstücken der Ribarics. Könnte spaßig sein. Na gut, interessant.«
»Wo bist du?«
»In der Basisstation. Mr. Kiely ist in Befehlslaune. Geheimkommando , Teil zwei.«
»Triff mich draußen, und zwar in, äh, zehn Minuten. Mit funktionierender Klimaanlage.«
Birkerts wartete bereits, an den Commodore gelehnt, aß irgendetwas, wischte sich gemächlich mit den Fingern über die Lippen.
A m ersten Tag dachte ich, es wär nur Familienkram«, sagte Tomasic. »Aber dann hab ich noch mal in den Sachen rumgeschnüffelt. Aus Langeweile, weiß auch nicht.«
Villani ging um den Küchentisch herum, betrachtete die Gegenstände: eine Brosche, Jadeohrringe, ein goldener Armreif, ein halbes Dutzend Fotografien, eine davon in einem filigranen Zinnrahmen, ein weiß gekleidetes Mädchen mit einer weißen Schleife im Haar, ein blasser Seidenschal, ein perlenbesticktes Täschchen, ein Tagebuch mit einer Seite pro Tag, ein dünnes, silbernes Kruzifix an einer Kette aus winzigen Silberperlen, abgenutzt vom Anfassen, vom Kummer.
»Und was sagt uns das?«, fragte Villani.
Tomasic kratzte sich an seinem Pitbullschädel. »Sachen von der Oma der Ribs. Valerie Crossley. Starb vor etwa einem Monat in einem Pflegeheim in Geelong.«
»Ist das die Mutter ihrer Mutter?«
»Genau, Chef. Die Mutter war Donna Crossley, deren Fürsorgeakte ist so dick wie ein Telefonbuch. Schnaps, Drogen, Verfügungen gegen Matko, die Kinder wurden ihr drei-, viermal weggenommen. Waren mehr bei Valerie als bei ihrer Mum. In Geelong.«
»Was wurde aus Donna?«
»Starb in Brissie. 1990. Auf dem Strich. Eventuell als Folge eines Straßenraubs.«
Villani nahm ein Foto zur Hand, eine Braut, ein Priester und eine Frau in einem cremefarbenen Kostüm samt Hütchen.
Das Bild war vertikal durchtrennt worden, glatte Linie, mit einer Schere durchgeschnitten. Man hatte den Bräutigam entfernt. Die Braut hatte ein schmales Gesicht, hübsch, wenn man kurze Beine mochte, stark geschminkte Augen, toupierte Betonfrisur.
Auf der Rückseite stand in zittriger Handschrift:
Donna und Pater Cusack. Geelong 1973.
»Anscheinend hat sie sich Matko hier auch vom Hals geschafft, Chef«, sagte Tomasic und reichte ihm ein anderes Foto.
Zwei kleine Jungs in einem Planschbecken, Zahnlücken, nass, glänzend, glücklich. Der obere Teil des Fotos war abgeschnitten worden, auf den Kinderschultern lagen breite, behaarte männliche Unterarme und Hände.
Villani reichte es Birkerts. »Wie in Russland«, sagte Birkerts. »Stalin hat so was gemacht. «
»Fotos zerschnitten?«, sagte Tomasic. »Das hat er gemacht? «
»Andauernd. Er war ein begeisterter Fotozerschneider.«
»Is ja irre«, sagte Tomasic.
Villani klappte ein gefaltetes Notizblatt auf.
Gemeinde St. Anselm’s, Geelong
10. Juli
Liebe Mrs. Crossley,
Pater Cusack war krank. Er sagt, er will versuchen, morgen früh zu Ihnen zu kommen. Ich hoffe, Ihnen geht es besser.
Annette Hogan
»Und, was ist damit?«, sagte Villani.
Tomasic hielt das Tagebuch hoch.
»Ich hab da ein wenig drin gelesen«, sagte er. »Das alte Mädchen war etwa ein halbes Jahr in dem Pflegeheim, ehe sie den Löffel abgab, hat so ziemlich jeden Tag was geschrieben.«
»Und?«, sagte Villani.
»Über ihr Essen, dass Leute sterben, die Pflegerinnen, jede Menge religiöser Scheiß, Gott und Jesus und Maria und Sünden und Vergebung … Verzeihung, Chef.«
»Ich fühle mich beleidgt«, sagte Villani. »Und?«
Tomasic sah ihn nicht an.
»Tja, also, gegen Ende«, fuhr er fort, »geht’s darum, dass sie Pater Cusack sehen will, aber er kommt nicht, und sie fragt immer wieder die Pflegerinnen, und die tätscheln sie nur, und er kommt nicht, und sie will nicht ohne Beichte sterben, und dann kommt
Weitere Kostenlose Bücher