Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman
über Nacht mit zu mir genommen. Am nächsten Tag hat Mrs. Matthews sich tausendmal entschuldigt.«
»Warum haben Sie Bethanys Vater nicht angerufen?«
Ein Luftzug weht eine Strähne aus Mrs. Nguyens Haarknoten. »Die Eltern lebten in Scheidung. Eine Woche davor hat die Mutter mich ausdrücklich gebeten, nicht zuzulassen, daß ihr Mann Kontakt zu dem Kind aufnimmt.«
»Wieso denn das?«
»Wegen irgendeiner Drohung, die er ausgesprochen hatte, wenn ich mich recht entsinne«, sagt Mrs. Nguyen. »Sie hatte Angst, daß er Bethany entführt.«
Andrew wirkt dünner, aber vielleicht liegt das nur an der weiten Gefängniskleidung. »Wie geht's Delia?« fragt er wie immer. Doch diesmal antworte ich nicht. Mein Geduldsfaden ist bis zum Zerreißen angespannt.
Ich stehe da, die Hände in den Taschen. »Du hast mir erzählt, es war eine spontane Entscheidung von dir, dein Kind zu kidnappen, eine unwillkürliche Reaktion auf eine schlimme Situation. Du hast mir erzählt, du bist mit Delia noch einmal zu ihr nach Hause gefahren, um ihre Schmusedecke zu holen, und hast deine Exfrau sinnlos betrunken vorgefunden, völlig weggetreten, und in dem Moment hast du erkannt, daß du die Sache selbst in die Hand nehmen mußt. Habe ich das richtig wiedergegeben?«
Andrew nickt.
»Wie erklärst du mir dann die Tatsache, daß du bereits damit gedroht hattest, deine Tochter von deiner Frau wegzubringen, bevor du zur Tat geschritten bist?« Frustriert trete ich gegen einen Stuhl. »Was verschweigst du mir noch alles, Andrew?«
In Andrews Hals spannen sich Muskeln, aber er antwortet nicht.
»Allein kriege ich das nicht hin«, sage ich und marschiere aus dem Raum, ohne mich noch einmal umzublicken.
Dreißig Tage vor Prozeßbeginn gibt die Staatsanwalt-schaft ihre Zeugen bekannt. Ich reagiere so, wie ich es immer tue - ich beantrage ein polizeiliches Führungszeugnis von jedem, den die Staatsanwaltschaft in den Zeugenstand rufen will. Das ist die Grundstrategie eines Verteidigers, wenn er nicht weiß, wie er seinen Mandanten verteidigen soll: Man versucht alles zu durchlöchern, was die Staatsanwaltschaft einem entge-genwirft.
Ich erhalte die angeforderten Informationen mit der Post, als ich zur Tür hinauslaufe, um zum Gericht zu fahren: Emma Wasserstein hat eine Anhörung beim Richter beantragt. Während ich darauf warte, daß der Richter mich in sein Büro rufen läßt, öffne ich den Umschlag. Delia hat natürlich keine Vorstrafen, und ich bin auch nicht überrascht, daß Detective LeGrande eine weiße Weste hat, der Polizist im Ruhestand, der damals den Fall bearbeitet hat. Mich interessiert ohnehin nur der Bericht über Elise Vasquez. Delias Mutter wurde nach einem Autounfall im Jahr 1972 wegen Trunkenheit am Steuer verurteilt.
Das ist eine Straftat. Und es passierte, als sie mit Dee schwanger war. Es wird nicht einfach sein, aber ich werde mit dieser Vorstrafe Elise' Glaubwürdigkeit anzweifeln, wenn sie im Zeugenstand aussagt. Die Begründung: Wenn jemand chronisch getrunken hat, ist sein Erinnerungsvermögen erst recht suspekt.
Ich weiß, wovon ich rede.
Emma Wasserstein biegt um die Ecke und bleibt stehen, als sie mich vor dem Büro des Richters sitzen sieht. »Ist er noch nicht so weit?«
Ich blicke auf ihren gewaltigen Bauch. »Im Gegensatz zu Ihnen«, sage ich, »offenbar nicht.«
Sie verdreht die Augen. »Vielleicht haben Sie das Memo nicht bekommen, aber wir sind nicht mehr in der siebten Klasse.«
Die Tür geht auf, und Richter Nobles Assistentin bittet uns herein. »Sehr schlecht gelaunt«, warnt sie uns im Flüsterton.
Wir nehmen Platz und warten, daß Richter Noble uns das Wort erteilt. »Ms. Wasserstein«, seufzt er, »was haben Sie diesmal auf dem Herzen?«
»Euer Ehren, ich möchte, daß eine Vorstrafe des Angeklagten bei der Beweisaufnahme berücksichtigt wird. Und zwar die Verurteilung wegen der Körperverletzung, die Charles Matthews im Dezember 1976 begangen hat. Es geht dabei um die Frage nach dem Motiv.«
»Euer Ehren, das wäre vollkommen überflüssig«, sage ich. »Bei der Angelegenheit handelt es sich um eine kleine Prügelei, die Jahre zurückliegt und für den zur Verhandlung stehenden Anklagepunkt unerheblich ist.«
»Unerheblich?« Emma mustert mich. »Haben Sie vielleicht mal nachgeschaut, wen Ihr Mandant damals verprügelt hat?« Sie reicht mir eine Kopie von der alten Anklageschrift - dasselbe Formular, das ich in der Hand hatte, als ich Einsicht in die Unterlagen der Gegenseite werfen
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