Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman
Betonbau mit einem Flaggenmast davor, im Empfangsbereich eine Polizistin, die so selten beansprucht wird, daß sie einen tragbaren Fernseher auf ihrem Schreibtisch aufgestellt hat; eine Wand, die mit selbstgemalten
Bildern einer Kindergartenklasse tapeziert ist, als Dankeschön an die Polizei, weil sie alle beschützt. Ich gehe hinein und bitte darum, mit Andrew Hopkins sprechen zu dürfen. Ich sage der Polizistin, daß ich sein Anwalt bin.
Eine Tür summt, und ein Sergeant kommt in die Eingangshalle. »Hier entlang bitte«, sagt der Officer und führt mich durch die verschlungenen Gänge zum Zellenbereich. Ich lasse mir Andrews Haftbefehl zeigen, und wie jeder Verteidiger tue ich so, als wüßte ich mehr, als ich bis zu dieser Minute tatsächlich weiß. Als ich das Schreiben überfliege, habe ich Mühe, keine Miene zu verziehen. Entführung?
Andrew Hopkins wegen Entführung anzuklagen, ist ungefähr so, als würde man Mutter Teresa Häresie vorwerfen. Soweit ich weiß, hat er in seinem Leben noch nicht einmal einen Strafzettel bekommen, geschweige denn irgendeine kriminelle Handlung begangen. Er war und ist ein Bilderbuchvater - achtsam, liebevoll -, ich hätte gern so einen Vater gehabt. Kein Wunder, daß Delia so aufgewühlt ist. Wenn der eigene Vater plötzlich bezichtigt wird, ein Doppelleben zu führen, wo er doch seit jeher eine öffentliche Figur ist, wie sie öffentlicher kaum sein kann - das ist doch reiner Wahnsinn.
Das Polizeirevier von Wexton verfügt über zwei Arrestzellen, die eigentlich nur dann benutzt werden, wenn jemand betrunken am Steuer erwischt wurde und seinen Rausch ausschlafen muß; in der auf der linken Seite war ich selbst schon mal. Andrew sitzt auf der Eisenbank in der anderen. Als er mich sieht, erhebt er sich.
Bis zu diesem Augenblick habe ich ihn noch nie als alten Mann gesehen. Aber Andrew geht stramm auf die
Sechzig zu, und in dem fahlen, grauen Licht der Zelle sieht er kein Jahr jünger aus. Seine Hände schließen sich um die Gitterstäbe. »Wo ist Delia?«
»Es geht ihr gut. Sie hat mich aus der Kanzlei geholt.« Ich mache einen Schritt auf Andrew zu und wende dem Sergeant den Rücken zu, warte ab, bis er den Raum verläßt. »Hör mal, Andrew, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Hier liegt offensichtlich eine Verwechslung vor. Die Sache wird sich bald aufklären, und du kriegst vielleicht noch eine Entschädigung für den emotionalen Streß. Ich -«
»Es liegt keine Verwechslung vor«, sagt er leise.
Ich starre ihn an, sprachlos. Er will sein Geständnis wiederholen, doch ich falle ihm ins Wort: »Sag es mir nicht. Sag auch sonst nichts, klar?«
Ein Teil von mir hat automatisch auf Strafverteidiger umgeschaltet. Wenn dein Mandant gesteht, steckst du dir Ohrstöpsel rein und machst deine Arbeit. Wie immer die Anklage lautet - schwere Straftat oder Bagatelldelikt, Mord oder, du lieber Himmel, Entführung -es gibt immer noch Möglichkeiten, den Geschworenen die Grauschattierungen vor Augen zu führen.
Aber ich bin nicht nur Anwalt, sondern auch Delias Verlobter. Ein Mann, der die Wahrheit erfahren muß, damit er sie Delia erzählen kann. Was für ein Mensch stiehlt ein Kind? Was würde ich mit dem Schwein anstellen, das Sophie entführen würde?
Ich blicke auf den Haftbefehl. »Bethany Matthews«, lese ich laut.
»Das ... war ihr Name.«
Mehr muß er nicht sagen. Ich weiß im selben Augenblick, daß Delia gemeint ist. Daß sie das kleine Mädchen ist, das vor einer Ewigkeit entführt wurde.
Nicht alle Kriminellen sind Schlägertypen mit schwarzer Lederjacke und einem dicken Warnzeichen auf der Stirn, das weiß ich besser als die meisten Menschen. Kriminelle sitzen neben uns im Bus. Sie sitzen im Supermarkt an der Kasse, lösen in der Bank unsere Schecks ein und unterrichten unsere Kinder. Sie sehen aus wie du und ich. Und deshalb kommen sie ungestraft davon.
Der Anwalt in mir rät dringend zur Vorsicht, erinnert mich daran, daß es mildernde Umstände geben muß, die ich noch nicht kenne. Der Rest von mir fragt sich, ob Delia geweint hat, als er sie entführte. Ob sie Angst hatte. Ob ihre Mutter jahrelang nach ihr gesucht hat.
Ob sie noch immer nach ihr sucht.
»Eric, ich ...«
»Morgen ist in New Hampshire eine Anhörung wegen Flucht vor Strafverfolgung«, unterbreche ich ihn. »Aber die Anklage wegen Entführung wurde von einer Grand Jury in Arizona erhoben. Für die Klageerwiderung müssen wir dorthin.«
»Eric -«
»Andrew« - ich drehe ihm den Rücken
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