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Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman

Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman

Titel: Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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bevor sich der wirkliche Anrufer meldete. Wenn ich an einem Polizeiauto vorbeifahre, bricht mir der Schweiß aus. Regelrecht Panik überkam mich, als einer aus dem Seniorenzentrum mich offiziell für die Stadtratswahl vorschlug, bis ich begriff, daß das beste Versteck die Öffentlichkeit ist. Bei jemandem, der sich so verhält, als hätte er nichts zu verbergen, sieht keiner so genau hin.
    Glaub, was du willst, aber beantworte bitte eine Frage: Woher willst du wissen, daß du an meiner Stelle nicht genauso gehandelt hättest?
    Glaub es mir oder nicht, es war eine Erleichterung, endlich geschnappt zu werden. Als ich meine Kleidung gegen die Gefängniskluft eintauschte, habe ich auch die Haut des Menschen abgestreift, als der ich mich ausgegeben habe. Es ist seltsam, aber irgendwie habe ich hier eher das Gefühl, am richtigen Ort zu sein, als draußen.
    Dreiundzwanzig Stunden am Tag bin ich in der Zelle. Während einer Stunde darf ich duschen und auf den Hof, wo ich tief Luft hole und versuche, den Gefängnisgeruch aus der Nase zu bekommen.
    Ich habe schon zweimal darum gebeten, dich anrufen zu dürfen. Ich dachte, jeder hätte bei der Einliefe-rung Anspruch auf einen Telefonanruf, aber das gibt es anscheinend nur in Filmen. Ich warte auf Eric, aber noch hat er sich nicht blicken lassen. Ich schätze, er hat allerhand bürokratischen Kram zu erledigen, ehe ich nach Arizona verlegt werde.
    Arizona war mit nichts hier im Nordosten zu vergleichen. Es war ein Ort, wo der Boden die Farbe von Blut hatte, wo Schnee ein Ding der Fantasie war, wo die Pflanzen Skelette hatten. Kaum hatte man Scotts-dale hinter sich gelassen, kam man durch Käffer, die nur aus einer Handvoll Bewohnern und einer Tankstelle bestanden. Damals war der Westen noch ein Sammelbecken für gesetzlose Rebellen. Heute sind aus den kleinen Orten, wie ich höre, Enklaven für die Reichen geworden, die in den unwirtlichen Red Cliffs teure Villen gebaut haben, aber der Ort in Phoenix, an den sie mich bringen, ist noch immer von gesetzlosen Rebellen bevölkert, nämlich von denen, die ebenfalls verhaftet wurden.
    Im Gefängnis wird es niemals dunkel, und es wird niemals still. Ich halte das alles nur aus, wenn ich an dich denke. Im Augenblick kommt mir wieder eine Erinnerung, und zwar an das Herbstwochenende, als wir einen Ausflug zum Mount Killington gemacht haben und mit einem Sessellift auf den Gipfel gefahren sind. Es war Oktober, und du warst erst fünf. Von ganz oben hatten wir einen Blick auf die Berge ringsherum. Das Tal tief unten war ein üppiges Tuch aus Rot und Gold und Smaragd, geschmückt mit Kirchturmspitzen, die in den Falten der Landschaft aussahen wie gefallene Sterne. Der Ottauquechee River zog mitten hindurch ein blaues Band, und die Luft roch schon nach Schnee.
    Der Unterschied zu Arizona hätte nicht größer sein können. Und da verstand ich zum ersten Mal, was die Menschen in New England meinen, wenn sie sagen, daß ein Mensch seinen ersten Herbst bei ihnen niemals vergißt.
    Alle Eltern blicken ihr Kind, das unbekannte Wesen, irgendwann an und versuchen, in ihm ein Stück von sich selbst zu entdecken. Doch was ich vor allem in dir gesehen habe, war deine Mutter.
    Du hattest eine geradezu unheimliche Begabung, Dinge zu finden: den vergilbten Stapel Comics, der im Keller hinter einem losen Wandbrett versteckt war; ein altes Fünfcentstück in einer Ritze im Gehweg. Elise konnte an Menschen Seiten entdecken, deren Fehlen sie nicht einmal bemerkt hatten, du hingegen warst auf das Greifbare spezialisiert, aber das, so fürchtete ich, war nur eine Frage der Zeit.
    Mit sieben fandest du einmal ein Meisenei, das aus dem Nest gefallen war. Das Ei war aufgeplatzt, und das noch nicht fertig entwickelte Vögelchen sah mit seiner blaßrosa Haut merkwürdig menschlich aus. Wir bestatteten es in einer kleinen Pappschachtel. »Wilbur«, sagtest du mit ernster Stimme, »hatte ein kurzes Leben, voller Gefahren.«
    So ähnlich wie du.
    Eine Woche lang hast du um den verflixten Vogel geweint - das erste Mal, daß du einen Verlust bewußt empfunden hast. Da wurde mir klar, daß ich, auch wenn ich dich ans äußerste Ende der Welt brächte, nicht verhindern könnte, daß deine Mutter wieder an die Oberfläche kam. Elise steckte dir im Blut; Elise war in dir. Und ich hatte entsetzliche Angst, daß du irgendwann wie Elise in der Lage wärst, das zu finden, was das Herz eines Menschen aushöhlt, und daß du dich dann genauso leer fühlen würdest, wie sie sich

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