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Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman

Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman

Titel: Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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der Mann, bei dem du aufgewachsen bist«, sage ich behutsam. »Er ist derselbe Mann, der er gestern war.«
    »Ist er das?« entgegnet Delia. »Ich habe mit Eric ein paar ziemlich unangenehme Situationen durchgemacht, aber ich habe nie daran gedacht, mich mit Sophie davonzuschleichen, damit er sie nie wiedersieht. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Mensch so weit geht, aber das hat mein Vater offenbar getan.«
    Ich könnte ihr aus eigener Erfahrung sagen, daß Menschen, die wir lieben, manchmal Entscheidungen treffen, die wir nicht nachvollziehen können. Aber wir sind trotzdem in der Lage, diese Menschen weiterhin zu lieben. Nicht das Verständnis zählt, sondern die Vergebung.
    Aber all das habe ich auch erst nach langer Zeit begriffen, und wohin hat es mich gebracht? Dahin, daß ich mir, wenn Delia mich bittet zu springen, klaglos die schweren Stiefel anziehe. Manche Lektionen kann man nicht lehren, sie müssen gelernt werden.
    »Ich bin sicher, er hatte seine Gründe«, sage ich. »Ich bin sicher, er will mit dir reden.«
    »Und was dann? Sollen wir einfach so weitermachen wie vorher? Und uns jeden zweiten Sonntag mit meiner Mutter zum Abendessen treffen und über alte Zeiten lachen? Unvorstellbar. Außerdem weiß ich nicht, ob ich mich nicht bei jedem Wort aus seinem Munde fragen werde, ob er die Wahrheit sagt.« Sie fängt an zu weinen, heftiger. »Ich wünschte, das wäre nie passiert«, sagt sie. »Ich wünschte, ich hätte es nie erfahren.«
    Ich zögere einen Augenblick, bevor ich sie in die Arme nehme - ich überlege es mir immer zweimal, bevor ich Delia berühre, es kostet mich einfach zu viel.
    Ich spüre ihr Herz an meinem pochen. Ich verstehe besser, als sie ahnt, daß Geschichte unauslöschlich ist. Du kannst sie verschleiern, du kannst sie übertünchen, aber du ahnst immer, was sich darunter verbirgt.
    Ich schmiege mich an sie, so daß ich den Duft ihres Haares einatmen kann. Delia hat mir beigebracht, daß menschliche Gerüche wie Fingerabdrücke sind - jeder einzelne ist einzigartig. Mit verbundenen Augen könnte ich Delia anhand ihres Geruchs finden: Sie riecht wie Lilien und Milch und Schnee, wie Gras im Sommer, das Parfüm meiner Kindheit.
    Sie bewegt sich, und die unglaublich weiche Haut unter ihrem Ohr streift meine Lippen. Sofort fahre ich zurück, als hätte ich mich verbrannt.
    »Sophie!« rufe ich. »Die Zeit ist um!« Sie kommt atemlos wieder die Treppe herunter.
    »Mommy hat keinen -«
    »Zieh deine Jacke an«, sage ich. »Du gehst in den Kindergarten.«
    Sophie freut sich über die Neuigkeit und läuft los, während Delia durch das Fenster in die Einfahrt späht. »Hast du die Schakale da draußen nicht gesehen?«
    Ich schiebe den Gedanken beiseite, was Delia wohl denken wird, wenn sie morgen früh die Zeitung sieht. »Ja«, sage ich mit bemüht heiterem Unterton, »aber ich bin einer von denen, und wir fressen uns nicht gegenseitig.«
    »Ich will da nicht raus -«
    »Mußt du aber«, sage ich. Delia soll auf keinen Fall nur zu Hause das Telefon anstarren und sich ausmalen, warum ihre Mutter nicht anruft.
    Sophie kommt schlitternd vor mir zum Stehen, und ich gehe in die Hocke, um ihr die Jacke zuzuknöpfen.
    »Wir bringen sie zum Kindergarten«, sage ich zu Delia, »und fahren dann weiter zum Gefängnis.«
    Heute morgen rief mich meine Chefredakteurin in ihr Büro. Sie heißt Marge Geraghy, raucht kubanische Zigarren und besteht darauf, mich mit meinem vollständigen scheußlichen Namen anzureden. »Fitzwilliam«, sagte sie, »nehmen Sie Platz.«
    Ich ließ mich in dem schäbigen Sessel vor ihrem Schreibtisch nieder. Die Redaktionsräume der New Hampshire Gazette sind genauso, wie man sie sich bei einer Zeitung vorstellt, die sich auf dem Klo von vorn bis hinten durchlesen läßt - schmuddelige graue Wände, Neonlampen, billige Möbel. Der Empfangsbereich ist ganz passabel, und es gibt einen hübschen Konferenzraum, für das eine Mal im Jahr, wenn der Gouverneur von New Hampshire die Redaktion für ein Interview mit seiner Gegenwart beehrt. Kein Wunder also, daß die meisten Journalisten lieber von zu Hause aus arbeiten.
    »Fitzwilliam«, wiederholte Marge. »Ich möchte mit Ihnen über den Entführungsfall sprechen.«
    Auf ihrem Schreibtisch lag die Zeitung aufgeschlagen, die Seite zwei mit meinem Artikel. »Was ist damit?« fragte ich.
    »In Ihrem Artikel fehlt was.«
    Ich hob eine Augenbraue. »Es steht alles drin. Die Fakten, die Vorgeschichte und so weiter. Wenn Sie eine

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