Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman
möchte dieser Frau noch nicht unsere Geschichte erzählen.
Ruthann geht neben Sophie in die Hocke und tut so, als würde sie ihr aus dem Ohr einen langen, roten Schnürsenkel ziehen. Ich muß an meinen Vater denken, an seine Zaubertricks im Seniorenzentrum, und die Erinnerung treibt mir fast die Tränen in die Augen. »Na, was haben wir denn da?« sagt Ruthann.
Am Ende des Schnürsenkels hängt ein Schlüssel. Ruthann nimmt Sophies kleines Gesicht in beide Hände. »Wenn du mit den Puppen spielen willst, kannst du jederzeit kommen, Siwa.« Dann richtet sie sich langsam wieder auf und drückt mir den Schlüssel in die Hand. »Passen Sie gut drauf auf«, ermahnt sie mich.
Ich nicke und frage mich kurz, ob sie wohl nur den Schlüssel gemeint hat.
Zu einer gelungenen Lüge gehören immer zwei: die Person, die lügt, und die Person, die ihr glaubt. Die erste Lüge, die mein Vater mir auftischte, muß die vom Unfalltod meiner Mutter gewesen sein. Aber warum habe ich, als ich alt genug war, nie darum gebeten, ihr Grab zu besuchen? Warum fand ich es nie merkwürdig, daß ich keine Großeltern oder Onkel oder Cousinen hatte, die uns hätten besuchen können? Warum habe ich nie nach dem Schmuck meiner Mutter gesucht, nach ihren alten Sachen, ihrem Jahrbuch von der High-School?
Als Eric noch trank, kam er manchmal nach Hause und bewegte sich so vorsichtig, daß sein Zustand unübersehbar war. Aber statt ihn zur Rede zu stellen, habe ich so getan, als wäre alles in Ordnung, genau wie er. Man kann sich irgendein Märchen ausdenken und es Leben nennen. Und daran glauben.
Wenn du keine Fragen stellst, dann nicht immer, weil du Angst hast, jemand könnte dir ins Gesicht lügen. Manchmal auch weil du Angst hast, er könnte die Wahrheit sagen.
Dieser Trailer hat durchaus Vorzüge: Du kannst ihn der Länge nach viermal durchschreiten, ohne zwischendurch Luft zu holen. Du kannst in der Küche stehen und ins Schlafzimmer sehen. Der Küchentisch läßt sich mit wenigen Handgriffen in ein Gästebett verwandeln. Und zu Sophies Entzücken ist er innen pink angestrichen, sogar die Klobrille. Und es gibt ein Telefonbuch.
Es sind siebenundsiebzig »Matthews« im Großraum Phoenix eingetragen. Vierunddreißig leben in Scotts-dale. Wie ich schon bei der Auskunft erfahren habe, findet sich darunter keine Elise Matthews, keine E. Matthews, kein Name, hinter dem sich meine Mutter verbergen könnte. Durchaus möglich, daß auch sie eine andere Person geworden ist.
Die Besitzerin des Trailers hat uns einen Ventilator dagelassen. Ich stelle ihn im Schlafzimmer auf und richte ihn direkt auf Sophie und Greta, die sich auf der Doppelmatratze zusammengerollt haben. Dann gehe ich nach draußen und setze mich auf die winzige Veranda. Es ist noch immer brütend heiß, obwohl die Sonne fast untergegangen ist. Der Himmel erscheint mir hier viel weiter, und die Sterne kommen allmählich hervor.
Wir sagen oft, daß wir für jemanden, den wir lieben, alles aufgeben würden, doch ich frage mich, wer das im Ernstfall wirklich tun würde. Würde Eric sich vor mich werfen, um mich vor einer Kugel zu retten? Würde ich das für Eric tun? Auch wenn ich dabei sterben könnte oder für immer gelähmt wäre? Auch wenn es für mich kein Zurück mehr gäbe, wenn mein Leben von diesem Augenblick an unterteilt wäre in davor und danach?
Der einzige Mensch, von dem ich, ohne eine Sekunde zu überlegen, ehrlich sagen kann, daß ich ihn retten würde, ist Sophie, einfach deshalb, weil ihr Leben im Wertesystem meines Herzens mehr zählt als meins.
Hatte mein Vater auch so empfunden?
Ich hole mein Handy hervor und wähle Fitz' Nummer, doch seine Mailbox springt an. Ich rufe Eric an, und er meldet sich. »Wo bist du?« frage ich.
»Ich schaue mir gerade etwas Wunderschönes an«, sagt Eric, und im selben Moment hält ein unbekanntes Auto vor mir. Eric lehnt sich zum Fenster hinaus, das Handy noch am Ohr. »Ich leg jetzt auf, in Ordnung?« fragt er und lächelt.
Er steigt aus dem Wagen, und ich falle in seine Arme, der erste vertraute Ort heute. »Wie geht's Soph?« fragt er.
»Sie schläft schon.« Ich folge ihm, als er in den Trailer geht, um nach ihr zu sehen. »Warst du bei ihm?«
Eric muß nicht erst fragen, wen ich meine. »Ich hab's versucht. Aber die Haftanstalt Madison Street läßt mich nicht ohne Berechtigungskarte rein.«
»Was ist denn das?«
»Ein Wisch, der in New Hampshire unbekannt ist und auf dem mir die Anwaltskammer von Arizona
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