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Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman

Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman

Titel: Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Platz in der Anstalt gebracht werden. Der Mann neben mir hat seine Sandalen ausgezogen und stimmt im Lotussitz einen Singsang an. Jetzt, da wir alle gleich gekleidet sind, sind wir auf das reduziert, worauf es hier ankommt. Der Bursche, der in einem Laden einen Rasierapparat geklaut hat, ist nicht von dem zu unterscheiden, der einem Gangmitglied die Kehle durchgeschnitten hat. Wir können uns gegenseitig nicht auseinanderhalten, und das ist ein Segen und ein Fluch zugleich.
    Zwei Aufseher eskortieren mich nach oben in den ersten Stock der Haftanstalt Madison Street, in den Hochsicherheitstrakt. Der Fahrstuhl öffnet sich, und wir betreten einen Kontrollbereich. Ich lasse erneut eine Leibesvisitation über mich ergehen und erhalte dann eine Zahnbürste von der Größe meines kleinen Fingers, Zahnpasta, Toilettenpapier, kurze Bleistifte, einen Radiergummi, einen Kamm und Seife. Schließlich gibt man mir noch ein Handtuch, eine Decke, eine Matratze und ein Laken.
    Das Haus besteht aus vier Trakten - große Käfige mit je fünfzehn Zellen. In der Mitte ragt eine Überwa-chungskabine auf, die mit einer Sprechanlage ausgerüstet ist. Unten in jedem Käfig sitzt eine Handvoll Männer an Tischen, spielt Karten oder guckt Fernsehen.
    Nachdem meine Papiere an sie übergeben wurden, öffnet die zuständige Aufseherin die Tür zum Käfig. »Sie haben die mittlere Zelle«, sagt sie. Sogleich spüre ich förmlich, wie die Aufmerksamkeit der anderen mich befällt wie eine Hautreizung.
    »Frischfleisch«, sagt ein Mann mit einem tätowierten Stacheldraht am Hals.
    »Fisch«, sagt ein anderer und spitzt die Lippen.
    Ich gehe an ihnen vorbei, stelle mich taub. In meiner Zelle lege ich meine Sachen auf die obere Pritsche. Wenn ich die Arme ausstrecken würde, könnte ich beide Wände berühren.
    Ich lege mich auf die Matratze, die dünn und voller Flecken ist. Jetzt, wo ich allein bin, drückt die ganze Furcht, die sich während der Aufnahmeprozedur in mir aufgebaut hat, die ganze Panik, die ich verdrängt und mit tiefem Schweigen verdeckt habe, mit solcher Macht auf meine Brust, daß ich nicht atmen kann. Mein Herz hämmert wie wild: Ich bin sechzig Jahre alt und im Gefängnis. Ich bin das leichteste Ziel.
    Als ich damals mit dir untertauchte, wußte ich, daß mir das hier passieren könnte. Aber das Risiko sieht anders aus, wenn man das System schlägt und nicht selbst geschlagen worden ist.
    Ein Mann kommt in die Zelle. Er ist groß und muskulös und hat auf dem Kopf tätowierte Teufelshörner. In der Hand hält er eine Bibel. »Wer bist du denn, Mann?« fragt er. »Ich bin nur mal kurz in der Kirche, und schon steckt man jemanden zu mir in die Zelle? Scheiße.« Er schiebt die Bibel unter die Matratze der unteren Pritsche, geht dann auf die Galerie und brüllt der Aufseherin zu: »Was soll denn der Opa hier?«
    »Wir haben sonst nirgendwo Platz, Sticks. Find dich damit ab.«
    Der Mann läßt die Faust gegen die Stahltür knallen. »Raus mit dir«, befiehlt er.
    Ich hole tief Luft. »Ich bleibe.«
    Sticks - ist das ein richtiger Name? - stellt sich dicht vor mich. »Willst wohl den starken Mann markieren, du Lusche.«
    »Ja genau«, sage ich. »Ich bin eine Lusche. Du bist eine Lusche. Wir sind alle Luschen.«
    Als er mich ungläubig anblickt und sich dann auf dem Absatz umdreht und geht, bleibe ich angenehm überrascht zurück. Kann das wirklich so einfach sein? Wenn ich mich weigere, das Spiel zu spielen, läßt man mich dann in Frieden?
    Hopkins.
    Mein Name ertönt über die Sprechanlage, und ich trete vor die Zelle und sehe zu der Aufseherin hinüber, die in das Mikro in der Überwachungskabine spricht.
    Sie haben Besuch.
    Ich rechne mit Eric, doch dann sehe ich dich.
    Ich weiß nicht, wie du es so schnell nach Arizona geschafft hast. Ich weiß nicht, wo du Sophie untergebracht hast, während du hier bist. Ich weiß nicht, wie du es an all diesen Stahlwänden und Schlössern und Lügen vorbei geschafft hast.
    Du starrst mich bei jedem Schritt an, und zunächst bin ich verlegen - es ist mir peinlich, daß du mich so siehst, in Gefängniskleidung und bis aufs Mark meiner Fehler entblößt. Zunächst schäme ich mich zu sehr, um dir in die Augen zu schauen, aber als ich es dann tue, schäme ich mich noch mehr. Ich wette, du weißt das nicht, aber in deinem Blick liegt noch immer Hoffnung. Nach allem, was passiert ist, vertraust du noch immer darauf, daß ich dir erkläre, warum dein ganzes Leben plötzlich auf den Kopf gestellt

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