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Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman

Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman

Titel: Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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höre ich Fitz' Gelächter. »Feigling«, ruft er mir hinterher.
    Ich blicke über die Schulter und grinse. »Idiot«, erwidere ich.
    Dreißig Minuten später bin ich wieder genau da, wo ich angefangen habe: im Besuchsraum der Haftanstalt Madison Street. Wieder habe ich die gleiche Diskussion mit der Frau am Eingang über meine Berechtigungskarte. Wieder warte ich eine Weile, während mein Mandant geholt wird. Diesmal jedoch kommt er tatsächlich. Andrew wartet, bis der Aufseher die Tür unseres kleinen Besprechungsraumes geschlossen hat, bevor er loslegt. »Nicht schuldig?« sagt er vorwurfsvoll.
    Als Strafverteidiger ist es meine Aufgabe, zum Wohle meines Mandanten zu handeln. Aber was macht man, wenn man glaubt, daß es dem Mandanten gar nicht um sein eigenes Wohl geht? Und was, um die Sache noch komplizierter zu machen, wenn der Mandant etwas möchte, das einer Frau, für die man sein
    Leben opfern würde, großen Kummer bereiten wird? »Himmelherrgott, Andrew. Ich hätte gedacht, eine einzige Nacht im Knast würde genügen, um dich davon zu überzeugen, daß das als ständiger Wohnsitz nichts für dich ist.« Seine Augen schleudern Blitze, aber er sagt nichts. »Und was glaubst du, wie das für Delia wäre?« füge ich hinzu. »Sie war schon fix und fertig, nachdem sie dich gestern abend nur eine halbe Stunde besucht hat.«
    »Nicht aus dem Grund, den du vermutest, Eric. Sie haßt mich. Sie haßt mich für das, was ich ihr angetan habe.«
    »Sie wollte, daß ich auf nicht schuldig plädiere«, gestehe ich, obwohl ich Andrew eigentlich nicht sagen darf, was Delia in bezug auf das Verfahren denkt. »Sie hat darauf bestanden.«
    Andrew blickt mich an. »Bevor oder nachdem sie gestern bei mir war?«
    Ich halte seinem Blick stand. »Nachdem«, lüge ich.
    Nimmt das denn gar kein Ende?
    Er läßt sich auf den Stuhl mir gegenüber sinken, und ich registriere zum ersten Mal die Blutergüsse an seiner Stirn und am Kinn, die Kratzspuren von Fingernägeln am Hals. Bei der Anklageeröffnung vorhin war ich so auf den Richter konzentriert, daß ich meinen Mandanten gar nicht richtig angesehen habe. Er schweigt einen langen Augenblick, so daß das einzige Geräusch im Raum von der Deckenlampe kommt, die bedenklich knistert. »Das alles ist ziemlich viel für sie«, sage ich sanft. »Du hast achtundzwanzig Jahre mit dem Wissen gelebt, daß es so kommen könnte. Für Delia ist es ein Schock. Sie braucht Zeit. Und sie muß wissen, daß du bereit bist, ihr die Zeit zu geben.« Ich zögere. »Du hast so viel auf dich geladen, um bei ihr zu sein. Warum willst du jetzt damit aufhören?«
    Ich sehe ihm an, daß er ins Grübeln kommt, mehr brauche ich nicht. »Wenn ich tue, was du willst«, sagt er nach einem Moment, »was geschieht dann mit mir?«
    Ich schüttele den Kopf. »Das weiß ich nicht, Andrew. Aber ich weiß genau, was mit dir geschieht, wenn du es nicht tust.«
    Andrew neigt den Kopf. »Erzählst du Delia, was ich dir erzähle?«
    Er fragt nach dem ethischen Drahtseil, auf dem ich als Anwalt tagtäglich balanciere. Nur daß dieser Mann mehr ist als bloß ein Mandant, daß seine Tochter mehr ist als bloß eine wichtige Zeugin, und auf einmal sackt der Boden tausend Meilen tiefer.
    »Was du hier sagst, bleibt unter uns«, verspreche ich.
    Andrew nickt. »Also schön«, sagt er.
    Ich räuspere mich und hole ganz geschäftsmäßig einen Notizblock aus meiner Aktenmappe. »Okay«, sage ich sachlich, »erzähl mir, wie du sie von zu Hause weggebracht hast.«
    An diesem Punkt sagt ein Mandant für gewöhnlich: Ich war's nicht. Oder: Ich schwöre, ich hab den Wagen nur für jemand anderen in die Garage gestellt, ich hatte keine Ahnung, daß er gestohlen war. Aber Andrew hat bereits gestanden, und eine fast dreißig Jahre lange Indizienkette beweist, daß er mit seiner Tochter ein Leben unter falschen Namen und unter Vorspiegelung falscher Tatsachen gelebt hat.
    Seine Tochter. Eine Frau mit Sommersprossen am Kinn, die mich stets an den Oriongürtel erinnern, eine Frau, die alle vierzehn Strophen des Gordon-Light-foot-Songs The Wreck of the Edmund Fitzgerald auswendig kann, die ihre Hand fest auf meine drückte, damit ich den harten Widerstand unter der Haut ihres Bauches spürte, und sagte: »Ich bin hundertprozentig sicher, das ist ein Fuß. Oder der Kopf.«
    Andrew holte tief Luft. »Ich hatte sie das ganze Wochenende, das war nach dem Besuchsrecht so vereinbart. Ich hab ihr gesagt, wir würden einen kleinen Urlaub machen. Und du

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