Wainwood House - Rachels Geheimnis
sie auf der Galerie bemerkt hatte, starrten Penny und Lord Nyles einvernehmlich auf die Stelle, an der das fremde Paar gerade noch gestanden hatte.
»Als ich den Colonel in Italien traf, wurde er von etwas oder jemandem verfolgt, das ich am liebsten als eine Erscheinung aus einem mitternächtlichen Alb traum abtun würde«, sagte Lord Nyles, ohne den Blick zu heben. »Ich hatte meine Rückkehr nach England gerade zum dritten Mal verschoben, als er über den Balkon meines Hotelzimmers floh, wie der Held eines dieser Fortsetzungsromane in den Zeitungen. Wir waren Zimmernachbarn, und er versuchte sich am nächsten Tag bei einer Einladung zum Lunch mit einer respektablen Erklärung herauszureden, aber da war es bereits zu spät.«
Penelope kam nicht umhin, sich zu fragen, welche Erklärung respektabel genug gewesen wäre, um eine Flucht über einen Balkon zu rechtfertigen, doch sie wollte Lord Nyles nicht unterbrechen. Sie betrachtete heimlich sein Profil. Der schnabelartige Höcker seiner Nase bot sich für einen perfekten Scherenschnitt an, markant und einprägsam. Im Gegensatz dazu wirkten seine Lippen im schattenreichen Zwielicht der Galerie geradezu verletzlich weich und mädchenhaft.
»Obwohl er sich redliche Mühe gab, gelang es ihm nicht, mich loszuwerden. Mit dem Colonel schien die letzte Gelegenheit in mein Leben getreten zu sein, ein wahrhaft außergewöhnliches Abenteuer zu erleben, bevor ich mich in London durch die gesamte Saison tanzen würde und keine Gelegenheit mehr erhielt, über fremder Leute Balkone zu klettern.« Als er aufsah, hatte er ein schiefes, jungenhaftes Grinsen im Gesicht, das viel besser zu Abenteuern und halsbrecherischen Verfolgungsjagden als zu Tanzeinladungen passte. »Das ist mein finsteres Geheimnis. Aber Sie sehen ja gar nicht schockiert aus, Lady Penelope.«
Hätte sie einen luxuriösen Morgenmantel und französisches Parfüm getragen, hätte Penelope vielleicht vor ungläubigem Entsetzen die Hände vor den Mund geschlagen. Doch so, wie die Dinge lagen, fühlte sie sich kein bisschen erschüttert. »Ich lauere meinen Verwandten hinter Grabsteinen auf und schleiche mich nachts aus meinem Zimmer, Lord Nyles«, erinnerte sie ihn nüchtern an ihre derangierte Erscheinung. »Falls es schicklicher ist, könnte ich angesichts solch gefährlicher Torheiten auch eine drohende Ohnmacht vortäuschen und auf Riechsalz bestehen.«
Jetzt war sie sicher, ein belustigtes Zucken in seinem Mundwinkel zu entdecken. »Das wird kaum nötig sein, denn bisher hat sich jede unserer Begegnungen durch einen beeindruckenden Mangel an Schicklichkeit ausgezeichnet«, erinnert er sie und klang kein bisschen unglücklich darüber. Ohne Vorwarnung streckte er den Arm in die Höhe und stellte sich auf die Zehenspitzen. Penelope sah an seiner lang gestreckten Gestalt hinauf. Über ihren Köpfen in dem Säulenbogen hing ein buschiger Zweig, und als Lord Nyles seine Hand wieder senkte, lag darin eine einzelne weiße Beere.
Zu spät begriff Penelope, dass sie unter einem Mistelzweig standen. Für jede gepflückte Beere gab es nach altem englischen Brauchtum einen Kuss, so lange, bis der Zweig leer war. Sie sah Nyles mit entsetzlich trockenem Mund an und war plötzlich gar nicht mehr schlagfertig. Fest verwurzelt stand sie auf dem roten Läufer, so dicht bei dem jungen Mann, dass sie sich fast berührten. Doch gerade, als sie sicher war, dass er sich im nächsten Moment vorbeugen würde, um sie zu küssen, schloss Nyles die Finger um die Beere und stecke sie in seine Fracktasche.
»Vielleicht werde ich diese Schuld eines Tages einfordern«, sagte er leichthin. »Spuken Sie nicht mehr zu lange durch das Haus, Lady Penelope.« Mit diesen Worten deutet er im Gehen eine Verbeugung an und hielt beschwingten Schrittes auf die Treppe zu. Als er aus den Schatten ins Licht trat, leuchtete sein Haar in strahlendem Rotgold auf. Die ausladende Treppe mit ihrem breit geschwungenen Geländer und den Messinglampen bildete die perfekte Kulisse für seinen Abgang.
Penelope sah ihm nach, nicht sicher, ob sie erleichtert oder enttäuscht sein sollte. Erst als Nyles bereits die Stufen hinabstieg, erinnerte sie sich daran, dass sie dank dem Mistelzweig vergessen hatte zu fragen, wer oder was in Italien hinter Colonel Feltham her gewesen war. Sie lehnte sich gegen die steinerne Brüstung der Galerie, als sie auf der anderen Seite eine Bewegung bemerkte. Penny sah auf und wünschte sich im selben Moment ein knochenbleiches Gerippe
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