Wainwood House - Rachels Geheimnis
zurückgehenden Gläser gewagt und alle hatten vor Hitze und Aufregung gerötete Wangen. Bald würden im Salon Eiscreme, Sorbet und Früchte serviert werden. Also war es nur eine Frage der Zeit, bis Mr Frost sie alle entdeckte und mit ein paar harschen Befehlen in die Küche zurückscheuchen würde.
Doch für den Augenblick amüsierten sie sich famos. Es wurden leise tuschelnd Spekulationen über die Tänzer und die Juwelen angestellt. Immer wieder musste ein albernes Kichern hastig mit der Hand erstickt werden, damit sie keiner der Gäste hörte. Jane stand am weitesten vom Ballsaal entfernt, an der Tür zum Dienstbotentreppenhaus, doch sie vermisste nichts. Es hatte am Nachmittag zum Tee kalten Braten auf den Sandwiches gegeben und danach ein süßes, klebriges Früchtebrot mit sahniger Butter. Obwohl sie bereits seit dem frühen Morgen auf den Beinen war, ließ die hektische Geschäftigkeit den Tag schnell herumgehen. Und unter ihrer Schürze glaubte sie bei jeder Bewegung die Briefe ihres Vaters zu spüren.
Sie hatte sich während des Gottesdienstes, den auch alle Dienstboten zu besuchen hatten, um ihrer Christenpflicht Genüge zu tun, eine stille Ecke gesucht. Die Seiten hatten leise unter ihren Fingern geraschelt, doch hinter dem Gesangsbuch verborgen war es kein Problem gewesen, sie heimlich zu lesen. Der Inhalt war allerdings enttäuschend unspektakulär gewesen.
Ihr Vater hatte über Wochen hinweg versucht, von Colonel Feltham Einzelheiten über die erste Ausgrabung vor zwanzig Jahren und die Eigenheiten des Geländes zu erfahren. Obwohl sie Felthams Antworten nicht kannte, ging aus dem Schreiben ihres Vaters hervor, dass der Colonel ihm von neuen Ausgrabungen in Amuth Beli abgeraten hatte. Offenbar hatte er das Gelände als schwierig, den verschütteten Abschnitt als riskant und den Erfolg als zweifelhaft beschrieben.
Auch wenn sie dem Geheimnis von Amuth Beli um keinen Schritt näher gekommen war, hatte Jane beim Lesen das Gefühl gehabt, als wären die vertrauten Schriftzüge ihres Vaters ein Gruß aus Ägypten, der sie um Monate zu spät in England erreichte. Die Erinnerung an ihre Heimat, wärmend und wehmütig zugleich, hatte sie durch den Tag getragen. Dann war sie von dem festlichen Trubel im Herrenhaus überschwemmt worden, sodass ihr keine Zeit zum Trauern blieb.
Inmitten der Ballnacht – erschöpft, aber aufgekratzt – genoss Jane sogar die Gesellschaft der anderen Hausmädchen, die in einem Anfall von weihnachtlicher Güte auf die gewohnten Sticheleien verzichteten. Darüber hinaus waren zusammen mit den anderen Gästen mehrere fremde Dienstboten gekommen, auch Kellner, die Lord Derrington für den Ball aus der nächsten Stadt angemietet hatte. Somit waren jede Menge fremde junge Männer im Dienstbotentrakt anzutreffen. Eine bessere Gelegenheit, Bekanntschaften zu knüpfen und viel leicht einen Verehrer zu gewinnen, konnten sich die Hausmädchen nicht vorstellen.
Das Getuschel im Dienstbotengang nahm zu, sobald ein neues Gesicht auftauchte. Die Mädchen nahmen mit geübtem Auge Maß, wenn die fremden Kellner vorbeischritten. Gerade eilte wieder ein Trupp befrackter junger Diener an ihnen vorüber, mit silbernen Tabletts voller Dessertschalen in den behandschuhten Fingern. Als die Tür zum Treppenhaus wieder aufging, trat ein schlanker junger Mann mit schwarzem Haar und ungewöhnlich sonnengebräunter Haut ein. Er blieb auf der Schwelle stehen, um den anderen Dienern eine Schale mit kandierten Limonen hinterherzureichen, die sie in der Küche vergessen hatten. Als er sich wieder zum Gehen wandte, streifte sein Blick Jane. Er stockte eine Sekunde lang in seiner Bewegung, doch sie genügte, um Jane aufhorchen zu lassen. Er schien sie wiederzuerkennen, auch wenn das Mädchen überzeugt war, ihn noch niemals zuvor gesehen zu haben.
Bevor es reagieren konnte, war er wieder im Treppenhaus verschwunden. »Wer war das?«, fragte Jane die irische Spülmagd neben sich, die manchmal mit Hanna schwatzte und jetzt den Hals reckte, um dem längst entschwundenen jungen Mann nachzuspähen.
»So ein großer, dunkelhäutiger Bursche«, beschrieb ihn Jane. Sie deutete seine Körpergröße an, indem sie die Hand ausstreckte und mit den Fingern einen halben Yard über ihrem Kopf einen Punkt in der Luft markierte.
»Vielleicht einer der mitgereisten Kammerdiener«, rätselte die junge Irin »Es ist ein Grieche darunter oder ein Türke.« Ihr Schulterzucken deutete an, dass sie den Unterschied eh nicht
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