Wainwood House - Rachels Geheimnis
Dachgeschoss nichts. Die blanken Dielen waren so schmucklos wie die grauen Wände. Nur eine einzelne, altmodische Gaslampe brannte auf halber Höhe. Die verschlossenen Türen hielten zu beiden Seiten des Korridors abweisend Wacht.
Keiner von ihnen hatte je einen Schlüssel bekommen, und Jane wusste, hinter welcher Tür Beatrice’ Kammer lag. Es würde das zweite Mal an diesem Tag sein, dass sie ein fremdes Zimmer durchsuchte. Im Gegensatz zu heute Morgen hegte sie nun keinerlei Skrupel mehr. Von ihrer ersten Begegnung an hatte das oberste Hausmädchen nie mit boshaften Sticheleien gespart. Sie hatte keine Gelegenheit verstreichen lassen, Jane schlecht dastehen zu lassen, und ihr eine endlose Reihe von Fehlern angelastet. All diese Gemeinheiten gipfelten in dem Diebstahl des Päckchens, von dem Jane unbedingt wissen wollte, wer um alles in der Welt es ihr geschickt hatte.
Sie gab sich keine Mühe, leise zu sein, denn um diese Zeit würde Beatrice im Dienstbotentrakt sein und dabei helfen, die Tabletts bis zum Ballsaal hinaufzuschaffen. Es konnte niemand hier sein, der sie hörte, und es würde auch noch eine geraume Weile niemand heraufkommen. Mit gärendem Zorn und grimmiger Entschlossenheit schritt Jane die Reihe der Türen ab. Sie blieb vor Beatrice’ Zimmer stehen und stockte kurz, die Hand bereits auf der Klinke. Sie wartete auf ein Anzeichen, ob auch in dieser Nacht wieder ein Spuk auf dem Boden umgehen würde oder sich eines der anderen Mädchen doch auf sein Zimmer geschlichen hatte, um vielleicht in Ruhe eine Karte zu lesen oder ungestört ein Päckchen zu öffnen. Aber in den Kammern regte sich nichts und über ihr auf dem Dachboden hallte die Stille.
Mit einem entschlossenen Ruck stieß Jane die Tür auf. Sie verharrte auf der Schwelle. Vor ihr lag eine Kammer, die denen der anderen Mädchen bis hin zu dem bröselnden Putz an den Wänden glich. An der einen Seite stand ein wurmstichiger Schrank, inmitten des Zimmers unter einer Dachschräge ein eisernes Bett. Auf dem Tischchen daneben brannte eine Kerze, deren Schein ausreichte, um ein Päckchen zu beleuchten, das aufgerissen auf dem Kopfkissen lag. Das Mansardenfenster war einen Spaltbreit geöffnet, und obwohl in dieser Nacht kein Wind mehr über die Dächer fegte, ließ der Luftzug die Kerzenflamme unruhig um den Docht flackern. Sie musste bereits eine geraume Weile brennen, denn unzählige Wachstropfen waren in langen Bahnen an ihr entlanggeronnen und in der Kälte erstarrt. Neben der Kerze stapelten sich zerlesene Magazine. Beatrice hatte ein cremefarbenes Band um die Eisenstreben am Kopfende ihres Bettes gewunden. Auf dem Waschtisch lagen unordentlich durcheinandergewürfelt Haarnadeln, Spangen und Schleifen bereit. Neben dem stumpfen, alten Spiegel war die Kohlezeichnung eines abweisenden Stadthauses mit hohen Kaminen an die Wand geheftet worden. Doch es war nicht die Entdeckung, dass auch Beatrice über ein schlagendes Herz verfügen musste, die Jane auf der Schwelle der Kammer festgefroren hatte, als wäre der Frostzauber einer nordischen Sagengestalt am Werke gewesen. Es war die schlanke Gestalt, die bäuchlings neben dem Bett auf dem ramponierten Flickenteppich lag.
Die weißen Bänder von Beatrice Schürze verliefen über ihren Rücken gekreuzt. Sie mündeten in einer adretten Schleife. Ihre Röcke waren im Fallen hochgerutscht. Darunter war der angegraute Stoff ihrer langen Unterhose zu sehen. Selbst ihre Frisur war unversehrt geblieben. Nur eine einzelne Strähne fiel ihr in die Stirn. Ihre Augen standen offen. Sie waren starr auf einen Flecken dicht über den nackten Dielen gerichtet.
Ohne einen klaren Gedanken zu fassen oder eine bewusste Entscheidung zu treffen, trat Jane in den Raum. Sie fand sich neben Beatrice am Boden kniend wieder. Sie hatte schon vorher tote Menschen gesehen. Es hatte vor Jahren einmal einen ägyptischen Arbeiter gegeben, der bei den Ausgrabungen von einer Ladung Schutt erschlagen wurde. Und erst im letzten Frühjahr war ein kleiner Junge an dem Stich eines Skorpions gestorben. Ihre Mutter hatte nicht mehr für ihn tun können, als seinen schmalen Körper im Arm zu halten, bis es vorüber war. Der Tod war keinem Ägypter fremd. In jeder der großen Familien starb immer wieder jemand, ein ergrauter Gevatter am Alter etwa oder eine junge Frau im Kindbett. Es gab in dem Land nur wenige Ärzte und noch weniger Krankenhäuser. Selbst die Kinder sahen von klein auf Tiere sterben. Lämmer und Zicklein wurden zu
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