Wainwood House - Rachels Geheimnis
großen Festen im Hof geschlachtet. Auch Jane war einmal mit ihrem Vater und einigen anderen Männern in der Wüste geritten, um in der Abenddämmerung Schakale zu schießen.
Doch niemals zuvor war ihr ein Tod so makellos erschien. Geradeso als hätte Beatrice sich von einem Moment auf den anderen entschlossen, nicht mehr länger zu atmen. Ihre Züge waren starr, aber nicht verzerrt von Schmerz. Ihre schmalen Lippen hatten sich nicht blau verfärbt und es war kein Blut zu sehen. Allein in ihrem Mundwinkel klebte ein heller Kekskrumen. Nur ihre Finger hatten sich im Sterben um ein Stück Mandelkonfekt verkrampft. Der süße Marzipangeruch hing noch immer in der Luft. Jane streckte ihre Hand nach dem Hausmädchen aus und strich ihm zaghaft über die Wange. Die Haut unter ihren Fingern war noch warm, doch es ging keine Regung mehr über das schmale Gesicht. Die Berührung ließ Jane würgen. Mit zitternden Fingern versuchte sie unter Beatrice’ ordentlichem Spitzenkragen nach ihrem Puls zu tasten. Dabei verhedderte sie sich in dem zarten Stoff, aber sie fand kein Anzeichen von Leben mehr an ihrem Hals. Als würde Jane jetzt auch selbst keine Luft mehr bekommen, hielt es sie keinen Moment länger neben Beatrice’ regungsloser Gestalt aus.
Sie stürzte an das Fenster und schlug es weit auf. Eisig kalte Luft schwemmte über sie hinweg in den Raum und löschte die Kerze. In einem entfernten Winkel ihres Bewusstseins regte sich der Gedanke, dass sie sich im Zimmer umsehen sollte, um herauszufinden, wer oder was Beatrice umgebracht hatte. Doch diese Überlegung schaukelte nur hilflos durch Janes aufgewühlten Verstand, wie eine Flaschenpost auf hoher See. Anstatt Licht zu machen, die Kammer zu durchsuchen und um Hilfe zu rufen, klammerte sie sich am Fensterrahmen fest und beugte sich weit in die Nacht hinaus. Inmitten des dunklen Parks leuchteten die roten Lampions in den Bäumen der Allee ordentlich aufgereiht, wie auf eine Schnur gezogene Perlen. Obwohl sich kein Windzug regte, fiel ein hauchfeiner Regen über dem Herrenhaus nieder, nicht nass, sondern kalt und duftig, wie winzige Federn. Jane spürte seine zarte Berührung auf ihrem Gesicht, sonst fühlte sie nichts mehr. Nicht den hölzernen Rahmen des Fensters unter ihren Fingern, und nicht die eisige Witterung, die ihr bis unter die Haut kroch. Sie hielt den Blick immerzu auf die Kette der roten Lampions gerichtet und brauchte ihre ganze Kraft, nur um zu atmen, auch als sie längst nicht mehr allein im Zimmer war.
Hannas entsetztes Keuchen, als sie hereingestürmt kam, ihre aufgeregten Fragen und der Schein ihrer Öllampe reichten nicht bis an Jane heran. Hanna trat neben sie ans Fenster. Sie versuchte ihr etwas zu erklären, dass Jane nicht begriff, als hätte sie die englische Sprache verlernt. Dann umschlang das andere Mädchen sie mit beiden Armen, und diese Berührung brach den Damm. Jane sank in Hannas Umarmung. Sie schmiegte sich schutzsuchend an ihren warmen, weichen Körper. Jane roch Zimtkekse und Kleiderstärke, getrockneten Schweiß und unendlich fein den Duft des kostbaren Seifengeschenks. Eine Hand strich ihr beruhigend über das Haar, so wie es seit dem Tod ihrer Mutter niemand mehr getan hatte. Es hätte sie nicht überrascht, wenn sie in diesem Moment die Dachkammer hätte fortblinzeln können, wie einen wirren Traum, um in einem Zelt in der Wüste aufzuwachen und festzustellen, dass noch immer alles in bester Ordnung war.
Hanna versuchte mit Worten zu ihr durchzudringen, und als Jane entdeckte, dass sie wieder klar denken konnte, legte sie den Kopf in den Nacken und wies mit dem Finger zum Fenster hinaus: »Was ist das?«
Im Licht der Öllampe wirbelte unablässig ein kalter, weißer Staubschleier in das Zimmer. Seine winzigen Partikel schwebten für einen Moment in dem Raum, bevor sie zu Boden gingen. Sie klebten an ihren Kleidern und blieben an ihren Haaren hängen, nur um schon im nächsten Moment wieder aufzulösen.
»Das ist Schnee, Jane«, erklärte Hanna mit einem zittrigen Lachen. »Es ist immer noch Weihnachten, und wir haben Schnee.«
Jane vermied es, zu Beatrice hinüberzusehen, aber ihr Blick fiel auf das Päckchen, das geöffnet auf dem Kopfkissen lag. Unwillkürlich schmiegte sie sich wieder fester in die Umarmung des anderen Hausmädchens.
»Sie hat, – oh, Hanna, das Päckchen war für mich bestimmt! Was immer sie getötet hat …«
»Ich weiß.«
Die Tür stand noch immer offen. Schritte kamen den Korridor hinab. Mr Frost
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