Wainwood House - Rachels Geheimnis
Nachbarn endlich auf den Heimweg machten. Sie hatte an die Erleichterung der Damen gedacht, die von ihren Zofen aus den Korsetts geschnürt wurden und endlich die schweren Familienjuwelen ablegen konnten. Und sie hatte sich gefragt, ob die Männer wohl beim Auskleiden nach Zigarrenrauch und Rasierwasser rochen, nach Schweiß in ihren Hemden und nach all dem Brandy in ihrem Atem. Aber eigentlich hatte sie dabei nur an Lord Nyles gedacht, stellvertretend für alle anderen Gentlemen des Abends. Diese Feinheiten waren im stillen Dahindämmern, zwischen den träge torkelnden Gedankenfetzen und dem desertierenden Schlaf, verwischt.
Doch so zuverlässig wie ihre Gedanken immer wieder zu Lord Nyles und der einzelnen weißen Beere in seiner Hand zurückkehrten, so schuldbewusst erinnerte sie sich im folgenden Moment an Claire. Ihre Schwester hatte einen endlosen Augenblick lang auf der anderen Seite der Galerie gestanden, wie eine mitternächtliche Erscheinung, die aus dem Jenseits zurückgekehrt war, um das Geschlecht derer von Derrington als Spuk heimzusuchen. Noch während sich ihre Blicke kreuzten, hatte Penelope gewusst, dass sie es niemals rechtzeitig schaffen würde, die weitläufige Galerie zu umrunden, um zu Claire zu gelangen. Ihre Schwester hatte auf dem Absatz kehrtgemacht. Eingehüllt in ihren voluminösen Morgenmantel, war sie mit flatternden Rockschößen die Galerie hinabgeflohen und schon im nächsten Moment im angrenzenden Korridor verschwunden.
Auf dem Weg zurück in ihr Zimmer hatte Penelope eine geraume Weile vor Claires verschlossener Tür gestanden. Sie hatte mit den Fingerspitzen gegen das Holz geklopft und mit gesenkter Stimme darauf gedrängt, eingelassen zu werden. Doch die Tür war verschlossen geblieben, bis Penelope sich am Ende geschlagen gegeben hatte.
Als sich im Herrenhaus nichts mehr regte, hatte sie es nicht länger in ihrem Bett ausgehalten. Die Decke war ihr zu schwer gewesen und die Kissen zu weich. In der Dunkelheit zwischen den Möbeln in ihrem Zimmer schien eine Schar stummer Geister zu lauern, die jedes Mal prompt verschwand, wenn sie das grelle elektrische Licht anknipste. Doch an Schlaf war auch mit Licht nicht zu denken gewesen, sodass sie am Ende ruhelos durchs Zimmer getapst war.
Penelope sah aus dem Fenster auf die weiß geschneiten Hügel des Parks hinaus. Die Dämmerung war noch fern, doch der frühe Wintermorgen würde schon bald in den Gesindekammern anbrechen. Für einen Augenblick, von ihren endlosen Gedankenschlaufen wund gedacht und bleiern vor Erschöpfung, spielte sie mit der Idee, durch die Tür zum Gesindetrakt zu schleichen, um sich in der Küche am ersten Feuer des Tages die Hände zu wärmen und das dreizehnjährige, rotwangige Küchenmädchen damit zu verschrecken, dass sie um eine Tasse Tee bat. Aber natürlich ging das nicht an. Doch Penny schlüpfte zum zweiten Mal in dieser Nacht aus ihrem Zimmer und huschte auf bloßen Sohlen über den weichen Läufer. Sie blieb vor Claires Schlafzimmer stehen. Behutsam drückte sie die Klinke. Sie senkte sich mit einem feinen Schnappen herab, doch das Schloss sprang nicht auf. Penny hätte sich gern bei Claire entschuldigt und ihr gesagt, dass sie kein Recht dazu gehabt hatte, sich nachts mit Lord Nyles unter einem Mistelzweig zu treffen. Dass es keinen Kuss gegeben hatte, und keine Liebesschwüre. Sie hatte sich eine schlüssige Argumentation zurechtgelegt, mit der sie darauf verweisen wollte, dass noch mehr als ein Jahr vergehen würde, bevor sie selbst am Hofe vorgestellt werden würde, und dass Claire in dieser Zeit wenigstens ein Dutzend Heiratsanträge bekommen würde.
Es war ein enorm wortgewandtes, durch und durch schlüssiges Plädoyer, das Penelope noch in den Kissen entworfen und mit stummen Lippenbewegungen zum Baldachin ihres Himmelsbettes gehalten hatte. Eine Rede, mit der sie all die kleinen verletzenden Gehässigkeiten und schwesterlichen Rivalitäten zu überwinden hoffte. Doch die Tür blieb verschlossen. Bei aller Enttäuschung war Penelope doch unsagbar erleichtert, dass sie nun nicht schwören musste, Lord Nyles niemals zu küssen, weder unter einem Mistelzweig noch unter jedwedem anderen Gewächs.
Gerade als sie in ihr Zimmer zurückkehren wollte, sah sie am Ende des Korridors drei Gestalten. Penny kauerte sich geräuschlos hinter einen hübschen Beistelltisch mit einer monströsen Blumenvase, um nicht von ihnen entdeckt zu werden. Als sie unter der Tischplatte hervorspähte, sah sie vor dem
Weitere Kostenlose Bücher