Wainwood House - Rachels Geheimnis
ständige Herumziehen, ohne jemals anzukommen.«
»Wainwood ist kein schlechter Ort zum Leben«, behauptete Julian. »Sie könnten zurückkehren, wenn die Gefahr vorüber ist.«
»Ich weiß nicht, ob ich noch einmal zurück will«, sagte Jane mit einem Nachdruck, den Julian von keinem Dienstmädchen gewöhnt war. »Bei Ihnen ist das natürlich etwas anderes. Wainwood ist Ihr Zuhause.«
Julian ließ sich ihre Behauptung durch den Kopf gehen, während er mit einem Handschuh die Krümel von seinen Mantelaufschlägen fegte und auf dem geplünderten Grund des Proviantkorbs noch ein Stück glasierte Orange entdeckte. »Es ist der einzige Ort, an den ich stets zurückkehren könnte«, räumte er endlich ein. »Ich habe Freunde dort.« Julian offerierte Jane die Orangenscheibe. Das Mädchen brach sie in der Mitte durch und sie teilten beide die Süße eines fernen Sommers.
»Ich konnte mich heute Nacht nicht von meinen Freunden verabschieden«, sagte Jane nachdenklich und schien dabei an jemanden bestimmten zu denken. Im Hintergrund strömte ein Grüppchen auf den Bahnsteig. Ein Gepäckträger mit einem hochbeladenen Karren, ein Dienstmädchen, das einen Mops auf dem Arm trug, und in der Mitte zwei Damen. Obwohl seine Füße inzwischen zu Eisklumpen gefroren waren, zögerte Julian aufzustehen.
»Ich auch nicht«, gab er zu. Albernerweise hoffte er einen Moment lang, dass Samuel mit den Damen losgefahren war, um ihnen bei den Koffern zu helfen. Doch es tauchte kein blonder Haarschopf auf dem Bahnsteig auf und dann entdeckte ihn Tante Mildred. Sie winkte herrisch zu ihnen hinüber. Hectors Kläffen hallte über die Gleise und Julian erhob sich mit einem Seufzer.
»Hier trennen sich unsere Wege, Jane.« Er reichte ihr eine Fahrkarte und hängte sich den Korb über den Arm. Natürlich würde eine Bedienstete nicht in einem Abteil der ersten Klasse reisen. »Am besten, Sie suchen sich sofort, wenn der Zug einfährt, Ihren Platz in den hinteren Waggons. Die Zofe meiner Tante wird bald zu Ihnen stoßen. Passen Sie gut auf sich auf und …« Er suchte ihren Blick und war nicht überrascht, als Jane ihn geradeheraus erwiderte. »… vertrauen Sie auf Penny. Sie ist es wert.«
Mit einem grüßenden Tippen des Zeigefingers gegen seine Hutkrempe wandte er sich zum Gehen, auf die wartende Tante Mildred und Penelope zu. Jane blieb allein am hinteren Ende des Bahnsteigs zurück. Dann fuhr ihr Zug ein.
10. KAPITEL Damenbesuch
A m Nachmittag desselben Tages erreichten die Reisenden nach mehreren Stunden der Zugfahrt das weithin bekannte Städtchen Barrow. Auch wenn sich schwerlich bestreiten ließ, dass Barrow es nicht mit so ruhmreichen Geschwistern wie York oder Cambridge aufnehmen konnte, waren seine Einwohner doch insgeheim davon überzeugt, allen anderen englischen Städten überlegen zu sein. Der Ort hatte gerade die rechte Größe, um jede Person von Rang beim Namen zu kennen und sich stets darüber im Klaren zu sein, wen es auf der Straße zuerst zu grüßen galt. Gepflegte Umgangsformen wurden in Barrow hoch geschätzt, und es verhalf seinen Bewohnern zu einem ruhigen Schlaf, stets zu wissen, wie weit sie zur Begrüßung den Hut zu lüften hatten und wann ein Nicken mit dem Kopf über die Straße hinweg ausreichte.
Es gab eine ansehnliche Zahl von Geschäften, die müßige Passanten zum Flanieren verführen konnten, eine adrette Teestube, die zum Verweilen einlud, und eine überschaubare Bibliothek, deren Auswahl unter scharfer Beobachtung stand. Die örtliche Rudermannschaft konnte sich rühmen, das neunte Jahr in Folge die sc hnellste der ganzen Grafschaft zu sein. Und erst im letzten Sommer hatte das namhafte Magazin The Lady eine Rosenzüchtung aus Barrow lobend erwähnt. Folglich gab es kei nen Grund, den Ort nicht mit heimlichem Stolz oder gar offener Genugtuung zu betrachten, wie Mildred Pearce bei ihrer Ankunft am Bahnhof ihrer Nichte gegenüber betonte.
Jane konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Lady Penelope die Begeisterung ihrer Tante nicht teilte, doch zumindest waren alle Reisenden der kleinen Gruppe gleichermaßen glücklich, endlich am Ziel angelangt zu sein. Mrs Pearce’ Zofe hatte Jane auf der langen Bahnfahrt darüber aufgeklärt, dass ihre Dienstherrin bereits als junge Frau einen Sinn fürs Praktische bewiesen hatte. Anstatt den Antrag eines hoch verschuldeten Viscounts anzunehmen, hatte sie sich für einen betagten Industriellen entschieden, der sein Vermögen mit Kohle im Norden gemacht
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