Wainwood House - Rachels Geheimnis
Kühlkammer bereit. Dicht hinter den Puddings rangierten Suppen, zarter Fisch und butterweich gekochtes Geflügel. Der Rest des Haushalts war sich darin einig, dass das kein großer Trost war. Zum ersten Mal beneidete Jane die Herrschaften nicht um die ausgedehnten Mahlzeiten, die mehrmals am Tag aufgetragen wurden. Es schien auch Penelope keine Freude zu bereiten, sich in dem plüschigen Salon durch wenigstens drei weich gekochte Gänge am Tag quälen zu müssen, mit der schwatzsüchtigen Mrs Pearce und dem übellaunigen Hector als einziger Gesellschaft.
Doch auch in anderer Hinsicht hatte Lady Penelope ein schlechteres Los getroffen als Jane. Ihre Tante hatte eine endlose Liste von Fehlern an der jungen Frau entdeckt, angefangen bei ihren lose aufgesteckten Haaren und ihren nachlässigen Manieren bis hin zu ihren abenteuerlichen Ansichten. Seltsamerweise schien diese Anhäufung menschlicher Fehlbarkeit Mrs Pearce keineswegs zu entmutigen. Vielmehr verwandte sie bald all ihre Zeit darauf, aus ihrer Nichte endlich eine vorbildliche junge Dame zu formen.
Jane konnte auf dem Flur mit anhören, wie Lady Penelope ihrer Tante Nachmittag für Nachmittag vorlesen musste. Außerdem wurde dreimal die Woche ein Klavierlehrer ins Haus bestellt, mit dem der junge Gast, sehr zum Verdruss der restlichen Bewohner, jedes Mal die ewig gleichen Stücke üben musste. Obwohl selbst Lady Penelope einräumte, dass ihr Klavierspiel den Zuhörern Gewalt antun würde, ließ ihre Tante sich nicht davon abbringen, dass der Schlüssel zum Erfolg allein in der täglichen Übung lag. Dagegen verlief Janes Aufenthalt sehr viel erfreulicher. Sie hatte als mitgereiste Dienerin kaum feste Aufgaben innerhalb des Haushalts, und obwohl ihre Stellung unbedeutend blieb, besaß sie mehr Freiheiten als Penelope.
Jane verbrachte viel Zeit in der warmen, betriebsamen Küche. Sie liebte die vielen unterschiedlichen Gerüche, das Zischen und Dampfen der Töpfe und all die frischen Lebensmittel, die morgens an die Hintertür geliefert wurden. Es gab neben der kurzsichtigen Küchenmagd nur noch ein Hausmädchen und einen Butler, der vor allem der Würde des Hauses diente. Seine wichtigste Aufgabe bestand darin, an der Tür Visitenkarten entgegenzunehmen, Besucher anzukündigen und bei Tisch aufzutragen. Bei den Gesprächen in der Küche erfuhr Jane, dass Mrs Pearce seit Jahren schon über die Einstellung eines Hausdieners nachsann, obwohl der Köchin ein weiteres Mädchen lieber gewesen wäre. Doch offenbar ging es hierbei weniger um ein weiteres Paar helfender Hände. Das Ansehen von Mrs Pearce in Barrow schien sich nicht nur in der Anschaffung eines Automobils und einer ordentlich gestutzten Gartenhecke widerzuspiegeln, sondern auch an der Anzahl der männlichen Dienstboten.
Eine Woche nach ihrer Ankunft bekam die Zofe Annabell von ihrer Herrin den Auftrag, Jane in die Geheimnisse ihrer Zunft einzuweisen, um das Beste aus Lady Penelopes vernachlässigtem Aussehen zu machen. So verbrachten die beiden viel Zeit damit, pflegende Cremes und Tinkturen anzurühren und sich durch abgegriffene Modejournale zu blättern. Außerdem galt es die empfindlichen Spitzensäume der Kleider, die gefärbten Federn und weichen Pelze in einem tadellosen Zustand zu halten. Schnell stellte sich heraus, dass Janes Nähkünste zu wünschen übrig ließen und die Zeichnungen in den Modejournalen an sie vollkommen verschwendet waren. Aber sie mochte Annabells lebhafte Gesellschaft und ihre spitze Zunge. Es war eine große Erleichterung für das Mädchen, nicht mehr jeden Tag die unzähligen Wassereimer schleppen zu müssen und stundenlang gebeugt mit einer Scheuerbürste den Boden zu bearbeiten.
Janes einzige Pflicht bestanden darin, Lady Penelope jeden Morgen zu wecken, ihr beim Ankleiden zu helfen und ihre Garderobe in Ordnung zu halten. Gelegentlich musste sie die junge Frau auf Spaziergängen entlang der Hauptstraße von Barrow begleiten, um über ihre Tugend zu wachen. Denn auch wenn es schwer vorstellbar war, dass irgendjemand in dem beschaulichen Städtchen auch nur einen ungehörigen Blick in Lady Penelopes Richtung werfen würde, war Mrs Pearce nicht gewillt, in dieser Hinsicht ein Risiko einzugehen.
Der Januar 1908 ging ins Land, ohne dass ein Ende von Mrs Pearce’ Gastfreundschaft abzusehen war. Im Februar schmolz der Schnee zu matschigen braunweißen Säumen entlang der Straßen und wurde schließlich von einem andauernden Regen endgültig fortgespült. Colonel Feltham
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