Wainwood House - Rachels Geheimnis
hatte Jane vor ihrer Abreise einge bläut, unter keinen Umständen nach Wainwood zu schreiben, um ihren Aufenthaltsort geheim zu halten. Doch dank Lady Penelope erfuhr sie, dass Beatrice inzwischen beerdigt war und das Leben im Herrenhaus wieder seinen gewohnten Gang nahm. Lady Derrington schrieb ihrer Tochter jede Woche einige mahnende Worte. Und auch wenn der junge Mr Rushforth dieser Pflicht nicht ganz so oft nachkam, schien sich Lady Penelope über seine Briefe aus London mehr zu freuen.
Jane hatte nicht vergessen, dass der junge Mann sie zum Abschied gebeten hatte, seiner Cousine zu vertrauen. Doch es ergab sich niemals der richtige Anlass. Obwohl Jane die junge Lady jeden Morgen in ihr Korsett schnürte und ihr Haar mit hundert abgezählten Bürstenstrichen kämmte, lebten sie unter demselben Dach mehr denn je in zwei unterschiedlichen Welten. Sie verbrachten einige sehr frustrierende Nachmittage damit, die hübschen Frisuren zu üben, die Annabell Jane gezeigt hatte. Das Ergebnis war jedes Mal ein struppiges Nest und die Zofe musste am Ende zur Rettung herbeieilen. Gelegentlich erwähnte Lady Penelope Neuigkeiten aus Wainwood. Es war ein anderes Hausmädchen eingestellt worden, und ein Wanderzirkus hatte im Dorf Station gemacht, mit dem Ergebnis, dass der kleine Benjamin inzwischen lieber Dompteur als Indianer werden wollte.
Doch zwischen Mrs Pearce Spitzendeckchen waren der Giftanschlag und alte ägyptische Kulte sehr fern. Die Tage reihten sich endlos aneinander, angefüllt mit Hectors aufgebrachtem Gekläffe und Lady Penelopes schiefem Klavierspiel, durchzogen von einem ewigen Puddingduft und nur gelegentlich durchbrochen von Spaziergängen oder einem Damenbesuch zum Tee. Nachts war in der Dachkammer, die sich Jane mit Annabel teilte, ein Käuzchen aus der Kastanie im Garten zu hören. Der kleine Raum roch nach getrockneten Blüten und angesetzten Duftwässerchen, die noch zu Cremes und Tinkturen verarbeitet werden sollten. Und der gefährlichste Gegenstand, den Jane hier oben je in der Hand gehabt hatte, war eine Nähnadel gewesen.
Ihre Albträume begannen zusammen mit den Erinnerungen an Ägypten zu verblassen, wie eine Aquarellzeichnung, die achtlos vom Wind in eine Pfütze geweht worden war. Nur selten sah Jane im Schlaf noch Beatrice’ starres Gesicht vor sich oder glaubte kurz vor dem Aufwachen, den süßen Marzipanduft zu riechen. Sobald sie die Augen aufschlug, roch sie nur Annabells Seifen. Sie hatte nicht das Geringste dagegen einzuwenden, dass sie die Welt jenseits von Barrow zu vergessen schien. Es waren ereignislose, ewig gleiche Tage, doch Jane verspürte keinerlei Notwendigkeit, an die Vergangenheit zu rühren.
Der Februar ging in einen stürmischen März über, und die größte Veränderung bestand darin, dass Penelope nicht länger vorlesen, stattdessen jedoch mit ihrer Tante auf Französisch höfliche Konversation betreiben musste. Nachdem Jane lange an Annabell geübt hatte, beherrschte sie inzwischen leidlich ein paar der schlichteren Hochsteckfrisuren. Nur ihre Finger waren nach dem Nähen immer noch hoffnungslos zerstochen. Sie glaubte Lady Penelope eine gewisse Verzweiflung anzumerken, doch es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass die Kerkerhaft bei ihrer Tante ein schnelles Ende finden würde.
An einem Nachmittag Mitte März fand Jane unter dem Dach das große Mansardenfenster der Wäschekammer nur angelehnt vor. Es gab hier oben eine kleine Terrasse, auf der Annabell die feine Leibwäsche der Herrschaften zum Trocknen aufgehängt hatte, die sie nicht der Waschfrau überlassen wollte. Jane mochte diesen Ort besonders gern, weil außer ihr und Annabell nie irgendjemand hier heraufkam. Es gefiel ihr, an der Dachkante zu stehen, um auf die gesamte Umgebung zu schauen und sich von den Windböen die träge Wärme des Hauses fortwischen zu lassen.
Auch an diesem Nachmittag ließ Jane ihren Blick müßig durch die umliegenden Gärten streifen. Hector, der im ganzen Haus Narrenfreiheit genoss, war auf seinen kurzen Beinchen hinter ihr hergetrappelt. Einvernehmlich sahen sie in die Tiefe hinab. Janes schwarze Röcke flatterten im Wind. Auf der Wäscheleine blähten sich Mrs Pearce’ Unterhosen wie Segel auf einem Schiff. Gerade wollte Jane wieder ins Haus gehen, als der Mops in ein empörtes Gebell verfiel. Er flitzte über die Terrasse und blieb aufgeregt knurrend direkt vor dem Mansardenfenster stehen, durch das sie hinausgetreten waren. Auf der Dachschräge, unter den Schornsteinen,
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