Wainwood House - Rachels Geheimnis
saß mit sturmzerzauster Frisur und angezogenen Beinen Lady Penelope.
Sie schenkte Hector für seinen Verrat einen Blick voller Verachtung und reckte störrisch das Kinn vor, als wollte sie unterstreichen, dass wirklich nichts dabei war, wenn sie an einem grauen Märznachmittag das Verlangen empfand, das Dach zu erklimmen. Jane kam der Gedanke, dass solche Kletterpartien erklärten, warum sich Mrs Pearce so oft über Lady Penelopes zerknitterte Röcke beschwerte und über die hartnäckigen Flecken an ihren Händen. Es war nicht einfach, mit einem knöchellangen Kleid zu klettern, wie sie aus eigener Erfahrung wusste. Und die Schuhe von Lady Penelope waren sicher noch weniger dafür geeignet als ihre eigenen. Das sprach für eine eiserne Entschlossenheit.
»Was machen Sie da oben, Lady Penelope?«, erkundigte Jane sich neugierig.
»Lesen!« Das andere Mädchen hielt ein schmales Buch hoch. Der Einband war stockfleckig und abgegriffen.
»Ist es hier draußen nicht zu kalt?«, wollte Jane freundlich wissen, denn Lady Penelope machte nicht nur einen sehr unordentlichen, sondern auch einen sehr durchgefrorenen Eindruck. Besonders bequem sahen die Dachschindeln ebenfalls nicht aus, obwohl die Aussicht gewiss atemberaubend war.
Lady Penelope strich sich eine der losen Haarsträhnen hinters Ohr und ordnete beiläufig ihre Röcke. »Ein bisschen«, räumte sie widerstrebend ein. »Es ist mir noch nicht gelungen, eine Decke hinaufzuschmuggeln.«
»Ich könnte eine organisieren«, bot Jane hilfsbereit an. Sie nahm den immer noch grimmig knurrenden Hector auf den Arm und kraulte ihm zur Beruhigung den warmen Bauch. »Ich könnte sie hinter den Wäschestapeln für Sie verstecken.«
»Das wäre sehr liebenswürdig von Ihnen, Jane«, sagte Penelope so höflich, als würden sie gemeinsam vor dem Spiegel in ihrem Schlafzimmer stehen und ein neues Kleid anprobieren.
Jane spürte, wie sich ein Grinsen auf ihrem Gesicht ausbreitete, geboren in einer Heiterkeit, die sie wie ein dampfender Schluck Punsch von innen heraus wärmte. »Aber warum steigen Sie zum Lesen auf das Dach?«, hakte sie höflich nach.
Obwohl diese Frage nur angemessen schien, sanken Penelopes Schultern herab, und sie sah für einen Moment schrecklich verloren aus. »Um nicht mit meiner Tante und ihren Gästen Tee trinken zu müssen«, gestand sie mit einem Seufzer, der aus tiefster Seele kam.
»Die anderen Damen sind bereits eingetroffen. Ihre Tante wird Sie vermissen«, gab Jane zu bedenken, machte jedoch keine Anstalten, hineinzugehen oder Penelope von ihrem luftigen Sitz herunterzuhelfen.
»Ich werde ihr später sagen, dass ich spazieren gegangen bin und darüber die Zeit vergessen habe. Sie werden mich doch nicht verraten, Jane?«, bat Lady Penelope. »Ich glaube nicht, dass ich es noch einmal ertragen könnte, unter den missbilligenden Blicken dieser fetten Glucken auf dem Klavier vorzuspielen.« Sie hatte sich halb aufgesetzt und balancierte nun in der Hocke wie ein zum Leben erwachter Wasserspeier. Der Wind brachte ihren mit Spitzen besetzten Kragen zum Flattern und wirbelte die losen Haarsträhnen rund um ihren Kopf auf. Es wirkte, als würde sie eine Krone tragen. Jane fand, dass sie niemals schöner ausgesehen hatte.
»Ihr Geheimnis ist bei mir sicher«, erklärte sie und wusste im selben Moment, was Julian Rushforth auf dem Bahnhof gemeint hatte. »Sie sollten trotzdem herunterkommen. Es zieht schon Regen auf.« Sie nahm Penelope das Buch ab und streckte ihr die Hand entgegen.
Als sie beide zwischen den Wäscheleinen standen, warf Jane einen Blick auf den Titel. » Die Götter der Pharaonen ? Können Sie sich dafür noch begeistern?« Sie selbst hatte es die ganze Zeit über tunlichst vermieden, an etwas anderes als Annabells Cremetiegel oder die fachgerechte Anfertigung einer Perlenstickerei zu denken. Erst recht nicht an den Mandelduft von Marzipan oder Zyankali. Oder an dieses beeindruckende, dichte Falkengefieder, das sich wie ein Helm um den Kopf eines Mannes auf dem Speicher von Wainwood geschmiegt hatte.
»Dieses Buch unterscheidet sich von allen anderen Abhandlungen zum alten Ägypten«, behauptete Lady Penelope. »Es gehörte meiner Tante.«
Es stand außer Frage, dass damit nicht Mrs Pearce gemeint war. Jane sah die alte Fotografie vor sich, die sie in Colonel Felthams Koffer gefunden hatte. Ein Bild von einer jungen Frau, die den Töchtern des Earls ähnelte, und daneben ein Zeitungsartikel über den Tod einer Engländerin in
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