Wainwood House - Rachels Geheimnis
harmonischer als jedes Musikstück, das Penelope je zum Besten gegeben hatte. Jane spürte, dass die junge Lady ihr gefolgt war und jetzt hinter ihr stand.
»Ich weiß, dass Ihr Einsatz ungleich höher ist als meiner, aber Sie brauchen die Jagd nach der Wahrheit nicht mehr allein zu wagen, Jane«, hörte sie Pennys gesenkte Stimme hinter sich. »Wir könnten Freundinnen sein.«
Das war ein unerhörter Vorschlag, denn natürlich waren Herrschaften und Gesinde niemals Freunde, nicht einmal dann, wenn sie ein ganzes Leben Seite an Seite verbrachten. Anstatt also auf diese Ungeheuerlichkeit einzugehen, stürmte Jane die Stufen in dem finsteren Schacht des Dienstbotentreppenhauses hinab und Hector jagte ihr auf seinen Stummelbeinen aufgeregt hinterher. Penelope holte sie erst wieder ein, als sie die Küche fast erreicht hatten. Ein Schwall süßlicher Puddingduft schlug ihnen entgegen. Penny blieb unwillkürlich stehen. »Großer Gott«, hörte Jane sie hinter sich zu niemand Bestimmten sagen. »Wenn ich Barrow verlasse, werde ich in meinem ganzen Leben keinen Pudding mehr anrühren.« Jane gab vor, nichts gehört zu haben, doch als sie allein in die Küche trat, hielt sie Rachels Buch noch immer fest umklammert.
Sie warf am Abend keinen Blick hinein, auch nicht am nächsten Tag oder am übernächsten. Aber in der darauffolgenden Woche entdeckte Annabell den schmalen Band, der achtlos auf ihrer gemeinsamen Kommode herumlag. Ihre schlanken Finger strichen kundig über den zerschlissenen Einband. »Es wäre an der Zeit, ihn zu ersetzen, findest du nicht?«, fragte sie.
Jane gab einen unbestimmten Laut von sich, der mit etwas gutem Willen als Zustimmung gedeutet werden konnte. Sie wusste, dass ihre Meinung in dieser Angelegenheit nicht gefragt war. Annabell verfügte über eine schier unerschöpfliche Energie, wenn es galt, alles, was sich in ihrer Reichweite befand, auszubessern und zu verschönern, seien es nun Menschen oder Dinge.
»Es ist im Grunde ganz einfach«, erklärte die Zofe, »ich müsste nur die Seiten herauslösen, einen neuen Einband anfertigen und das Ganze mit etwas Leim und Nähzeug wieder zusammenfügen. Eine Presse wäre allerdings nicht schlecht.« Annabell plauderte weiter über geeignetes Leinen und Karton. Gleichzeitig hantierte sie geschickt mit einem scharfen Federmesser an dem zerschlissenen Einband herum, als hätte sie nicht schon den ganzen Nachmittag über dem neuen Federbesatz von Mrs Pearce’ Hut gesessen.
»Ich glaube, daran hat sich schon mal jemand zu schaffen gemacht«, stellte sie plötzlich fest. »Das Papier wurde herausgelöst und wieder festgeklebt, vielleicht um es auszubessern.« Sie warf Jane den herausgetrennten Bucheinband zu. Ohne die Seiten waren es nur zwei feste Stücke Pappe, die mit Stoff bezogen worden waren. Der Leinenumschlag war an mehreren Stellen zerfranst. Der Kleber hatte sich von der Pappe gelöst. Als Jane mit dem Fingernagel darunterfuhr, fühlte sie etwas knistern. Sie ließ sich von Annabell das Messer geben und schnitt den Stoff behutsam fort. Darunter kamen mehrere Bögen hauchdünnen Papiers zum Vorschein, auf denen eine Reihe von Namen und Ziffern notiert worden war.
Annabell sah ihr über die Schulter. »Was ist das?«
»Ich habe keine Ahnung«, gab Jane zu, während sie die Blätter glatt strich.
Rachel Feltham hatte ein einnehmendes Lächeln und eine ordentliche Handschrift gehabt. Die Buchstaben waren auch nach zwanzig Jahren noch gut zu lesen. Nur an einigen Stellen hatten der Leim und die Zeit das Papier ruiniert und die Buchstaben unleserlich gemacht. Es fängt wieder an, dachte Jane. Oder war es einfach nur längst noch nicht zu Ende?
In der folgenden Nacht schlich sie sich nach Mitternacht erst bis in die dunkle Küche und danach die geschwungene Treppe in den ersten Stock hinauf. Sie hielt sich nicht damit auf zu klopfen. Leise drückte sie die Klinke zu Lady Penelopes Zimmer herunter und glitt lautlos hinein. Sie stellte einen Teller auf dem Nachtschrank ab.
»Lady Penelope?« Obwohl Jane sich bemüht hatte, beruhigend zu sprechen, schreckte das andere Mädchen aus dem Schlaf, unfähig zu erkennen, wer im Dunkeln auf seinem Bett saß. »Bitte, ganz ruhig, ich bin es … Jane Swain …« Sie tastete leise fluchend nach der Gaslampe und drehte die Flamme auf.
»Jane?«, fragte Penny noch einmal nach, »was machen Sie hier?«
»Ich habe etwas in Rachels Buch gefunden«, sagte Jane. »Und ich habe Ihnen etwas aus der Küche
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