Wainwood House - Rachels Geheimnis
gewaltigen Dampfschiffe in den Docks von London immer komfortabler und schneller wurden, zog es immer mehr Abenteuerlustige zum reinen Vergnügen ins Mittelmeer oder sogar bis auf die andere Seite des Atlantiks.
»Lorraine Whittle wollte eine Zwischenstation in Rom einlegen, dann noch einmal in Venedig von Bord gehen und zuletzt in Konstantinopel, ist das vorzustellen?«, fragte Mildred entrüstet in die Runde. »Was kommt als Nächstes, frage ich euch? Tee bei den wilden Horden des Khan?«
»Wäre es denn nicht denkbar, den Orient zu besuchen und die Pyramiden von Kairo zu sehen?«, warf Penelope beiläufig ein.
Die Ungeheuerlichkeit dieses Vorschlags ließ für einen Moment alle schweigend mit ihrem Besteck das Kalbsbries bearbeiten. Das Silber blitzte im Licht der gewaltigen Kerzenleuchter auf. Die schweren Tischtücher schienen jedes Geräusch an der Tafel zu verschlucken.
»Was könnte sicherer sein, seit Ägypten Teil des Empires geworden ist?«, setzte Penny hinterher, bevor sich die Tischrunde von ihrer ersten Frage erholen konnte. »Vater war vor über zwanzig Jahren schon dort. Um wie viel sicherer muss es erst heute sein?« Sie vermied es, ihren Vater anzusehen. Aber auch so war es, als wäre das missbilligende Schweigen über der Tafel mit den Händen zu greifen.
Selbstredend war es Mildred, die es beendete. »Mein liebes Kind, dein Vater hat seinem Land in Ägypten als Soldat gedient. Das lässt sich wohl kaum vergleichen, und wenn ich erst daran denke, was der armen Rachel …«
»London ist für uns alle wohl aufregend genug«, unterbrach Lord Derrington seine Tante, ohne die Stimme über einen salonfähigen Tonfall hinaus zu erheben. »Aber vielleicht wird Claire eines Tages ihre Hochzeitsreise nach Paris oder Rom machen.« Er lächelte seiner ältesten Tochter über die Platten mit dem Fleisch und die blitzenden Kristallgläser hinweg liebevoll zu. Und wie immer, wenn die Möglichkeit einer Vermählung erwähnt wurde, schien Claire von innen heraus zu strahlen. Die Damen am Tisch fielen in das Lächeln ein, mit Ausnahme von Penelope, die nicht bereit war, sich so schnell geschlagen zu geben.
»Wer ist …?«, wollte sie gerade nachhaken, als ihr ihre Mutter zuvorkam.
»Wir dachten daran, zu Weihnachten einige Gäste mehr zu empfangen, um Claires Debüt Vorschub zu leisten«, erklärte Genevieve Tante Mildred, als hätte Penny kein Wort gesagt. »Natürlich werden wir vorher ihre Garderobe aufstocken müssen. Ich dachte auch daran, Beatrice von meiner Zofe ein paar Kniffe für ihre Haare zeigen zu lassen.«
Damit war das Thema Ägypten so elegant umschifft worden wie ein dreckiger Kohlekahn von einem Ausflugsboot an einem sonnigen Nachtmittag mitten auf der Themse. Als der Nachtisch aufgetragen wurde, war das Gespräch in den gewohnten seichten Fahrwassern angekommen. »Was werdet ihr wegen Penelope unternehmen?«, erkundigte sich Mildred beim Pudding.
»Sie ist ein Jahr nach Claire dran«, erklärte Genevieve, obwohl der Tante das Heiratskarussell für höhere Töchter bekannt war. »Vielleicht auch erst, wenn Claires Zukunft gesichert ist.«
Eine jüngere Tochter auf Gattenfang zu schicken, während eine ältere noch ledig war, vergrößerte die Konkurrenz und den immensen Druck, der auf den unverheirateten Mädchen lastete. Natürlich kam es für keine Tochter aus gutem Hause infrage, zu arbeiten wie eine gewöhnliche Gouvernante oder Schlimmeres. Ihre gesamte Zukunft lag somit in der Wahl eines passenden Ehegatten. Erst wenn eine junge Frau verheiratet war, konnte sie auf einen eigenen Haushalt hoffen, auf eigene Kinder und einen guten ehrbaren Namen. Claire war wild entschlossen, vom Tag ihrer Hochzeit an einen sehr ehrenwerten Namen zu führen und am Arm eines prachtvollen Ehemannes zum Altar zu schreiten.
Es war also kaum verwunderlich, dass sie prompt ergänzte: »Penny wird nicht lange warten müssen, denn ich habe gewiss nicht vor, zu den bedauernswerten Geschöpfen zu zählen, die mehr als eine Saison allein nach London fahren.« Bei diesen Worten schenkte sie ihrer Schwester ein zuckersüßes Lächeln, wie um zu unterstreichen, dass Penny dieses Schicksal durchaus drohen könnte.
Eine Debütantin, die eine zweite oder gar dritte Saison ohne Ehemann blieb, galt schnell als Ausschussware. Jungen Mädchen, die nach ihrer Einführung in die vornehme Gesellschaft das vierte Jahr in Folge unvermählt zur Saison nach London anreisten, haftete ein Hauch von Verzweiflung an. Sie
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