Wainwood House - Rachels Geheimnis
die Leute davon erfahren würden? Ihr ganzes Kapital als unverheiratetes Mädchen war, neben einer stattlichen Mitgift, ihr guter Ruf. Allein der Verdacht, nicht wohlbehütet von ihrer Familie, mit nichts als unschuldigen Jungmädchenträumen aufzuwachsen, konnte eine junge Frau ruinieren.
Umso bedenklicher war die traumwandlerische Sicherheit, mit der Penny sich ihren Weg durch das nachtschlafende Herrenhaus bahnte. Sie wich Büsten und Topfpalmen mit der mühelosen Eleganz jahrelanger Übung aus, stolperte über keine Stufen und brachte kein Dielenbrett unter ihren Füßen zum Knarren. Sie brauchte auch kein Licht, um sich in den verschachtelten Gängen zurechtzufinden, als sie die herrschaftlichen Stockwerke hinter sich ließ und zum Dachgeschoss hinaufschlich. Sie tastete sich mit der Hand an den kahlen Wänden entlang, während sie aus reiner Gewohnheit die Türen und Stufen auf ihrem Weg mitzählte. Sie musste an den Schlafkammern der Dienstmädchen vorbei, über nackte Dielen ohne Teppiche, durch finstere Korridore mit niedrigen Decken und ohne Fenster. Doch am Ende stand sie am Fuße einer engen Wendeltreppe, die sich vor ihr in die Höhe schraubte. Sie führte Penny in den Glockenturm hinauf, der über dem Eingangsportal emporragte. Jetzt knarrten die hölzernen Stufen leise unter ihren Füßen, doch hier oben konnte sie niemand mehr hören. Keine Menschenseele betrat jemals den Turm, der zwar von außen malerisch anzusehen war, doch schon seit vielen Jahren nur noch als Speicher genutzt wurde. Penny und Julian hatten als Kinder beim Spielen den Weg in den Glockenturm entdeckt. Seitdem waren sie immer wieder hier heraufgekommen, wenn sie ungestört reden wollten. Es war, als würde der Ort all ihre Geheimnisse hüten und sie vor der Welt beschützen. Penelope hatte als Neunjährige im Turm die seidenen Haarbänder gehortet, die sie Claire aus einer bohrenden Eifersucht heraus gestohlen hatte. Und ein schwarzer Rußflecken auf dem alten Holzboden markierte die Stelle, an der Julian den Brief eines besonders verhassten Lehrers verbrannt hatte. Bis heute verbarg Penelope unter den losen Dielenbrettern die Bücher und Magazine, die Julian für sie aus der Bibliothek geholt hatte, damit sie von den Dienstmädchen beim Saubermachen nicht in ihrem Zimmer gefunden werden konnten.
Als Penelope die letzten Stufen hinaufgestiegen war, zog sie im Vorbeigehen zwischen zwei Querbalken eine zusammengerollte Wolldecke hervor. Julian wartete bereits auf sie. Er stand an das offene Fenster gelehnt und sah auf den finsteren Park hinaus. Zwischen ihnen hing der bauchige Corpus einer einzelnen schweren Glocke mitten im Raum. Julian hatte kein Licht angezündet, und Penelope konnte in der Dunkelheit den Zigarettenrauch riechen, der sich noch nicht verflüchtigt hatte. Er trug noch immer den Abendanzug, den er zum Dinner angelegt hatte, auch wenn seine Fliege aufgeknotet um seinen Hals hing und sein Frack unordentlich auf einer der verstaubten Kisten lag, die unter den Dachschrägen gelagert wurden.
»Sie hat sich nichts dabei gedacht, Jules«, sagte Penelope übergangslos an Stelle einer Begrüßung. Sie hatte sich die Wolldecke um die Schultern geschlungen und hantierte so lange mit Streichhölzern herum, bis die Kerzenstummel entzündet waren, die sie mit Wachs auf einem niedrigen Querbalken befestigt hatten. Im goldgelben Schein der Kerzen kletterte Penny auf einen monströsen, altmodischen Schrankkoffer und zog die Beine an, um ihre kalten Füße zu massieren.
»Ganz im Gegenteil, sie hat sich sehr viel dabei gedacht …«, entgegnete Julian und drehte sich langsam zu ihr herum. »… genau das, was auch deine Eltern denken, nur dass sie zu wohlerzogen sind, um es auszusprechen.«
Penelope entdeckte auf dem Fenstersims ein leeres Weinglas. Das Überbleibsel des festlichen Dinners wirkte in dem verstaubten Glockenturm so fehl am Platz wie Julians Abendgarderobe. »Warum sollte es dir besser ergehen als mir?«, erkundigte sie sich mit der Grimasse eines misslungenen Lächelns. »Claire wird eines Tages eine glänzende Partie machen, und Benjamin wird Wainwood erben. Wir sind beide nur die Ersatzspieler, die erst ins Feld geschickt werden, wenn die Champions ausscheiden.«
Obwohl Damen selbstredend keinen Ballsport betrieben, waren Penny die grundlegenden Spielregeln von Rugby und Fußball ein Begriff. Damen, fand sie, durften erstaunlich wenig aufregende Dinge tun. Und dass sie nicht zu der Sorte Damen gehörte, die
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