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Wainwood House - Rachels Geheimnis

Wainwood House - Rachels Geheimnis

Titel: Wainwood House - Rachels Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stoffers
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Tag versprach von der Wärme des vergangenen Sommers zu zehren.
    Zum ersten Mal empfand Jane so etwas wie Neugierde auf dieses Land, in das sie nach dem Tod ihrer Eltern nur widerwillig gekommen war. Aber noch war sie nicht am Ziel. Jane besann sich wieder auf ihre eigentliche Mission. Mit wilder Entschlossenheit und zerzauster Frisur starrte sie abwärts, bevor sie sich von der Mauer abstieß und in den Park hinabsprang. In ihrer Heimat Ägypten hätte der heiße Sand der Wüste ihren Sturz abgefangen, ein Paar hochgeschnürte Lederstiefel hätten ihre Knöchel gestützt und der raue Stoff ihrer Hose hätte keinerlei Schaden genommen. In England hingegen prallte sie hart auf dem festen Boden auf. Es gelang ihr nicht, auf den Absätzen ihrer neuen Schuhe das Gleichgewicht zu halten, und sie geriet über ihre langen Röcke ins Stolpern. Ein beißender Schmerz schoss ihr das Knie hinauf, und sie schrammte sich die Hände auf, als sie hinfiel. Noch als der Schmerz verflogen war, verharrte Jane regungslos. Der leise Anflug von Zuversicht, den sie gerade noch angesichts der morgendlichen Aussicht empfunden hatte, war prompt wieder verflogen. Anstatt sich aufzurappeln, versuchte sie sich zu erinnern, wie es war, nicht mehr zu frieren. Ganz gewiss hätte sie alles leichter ertragen können, wenn es nur ein bisschen wärmer in diesem Land gewesen wäre und nicht alles so fremd, wenn die Häuser in den Städten nicht so grau und so hoch in den Himmel geragt hätten und wenn die Engländer ein bisschen weniger steif gewesen wären. Sie hatte sich daran gewöhnt, überall, wo sie hinkam, mit Argwohn betrachtet zu werden. Es machte ihr nichts aus, keinen Verbündeten an ihrer Seite zu haben. Und sie fürchtete sich vor keiner Menschenseele. Sicherheitshalber trug sie noch immer ein Klappmesser unter ihren Röcken verborgen, obwohl ihr ein handlicher Stein zur Verteidigung gegen etwaige Feinde lieber gewesen wäre. So einer wie der, mit dem sie einmal in ihrem Zelt im Ausgrabungslager ihres Vaters einen Skorpion erschlagen hatte. Doch verirrte Skorpione schienen in England nicht das Problem zu sein.
    Als sie endlich aufstand, klebte Erde an ihrem Rock und an ihren Händen. Mrs Tilling hatte auf eine schwarze Garderobe bestanden, um der Trauer nach dem Tod ihrer Eltern Rechnung zu tragen. Jane hingegen hatte sich den bunt gemusterten Schal ihrer Mutter wie einen schützenden Mantel umgeschlungen, sobald Mrs Tilling außer Sichtweite war. Jetzt zog sie das Tuch enger um ihre Schultern und ging zum Eisentor zurück. Ihre Reisetasche stand noch immer dort, wo Jane sie zurückgelassen hatte, und mit einiger Mühe zog sie das alte Ding zwischen den Gitterstäben hindurch. Der Koffer mit ihrer restlichen Habe würde ihr von London aus nachgeschickt werden, sobald Jane einen Ort gefunden hatte, an dem sie länger als ein paar Tage bleiben durfte.
    Janes Eltern waren bei einem Unfall auf einer Ausgrabung in Ägypten gestorben. Sie hatten keine Vorkehrungen für die Zukunft ihrer einzigen Tochter getroffen. Und so hatte in den Salons von Kairo allgemeine Einigkeit darüber bestanden, dass Jane sich glücklich schätzen durfte, dass Colonel Feltham praktisch aus dem Nichts aufgetaucht war, um sich wie der Heiland höchstselbst ihres Schicksals anzunehmen. Die Geschichte gewann noch dadurch, dass er sie fernab jeder Zivilisation aufgelesen hatte und Jane ohne ihn zweifellos elendig zugrunde gegangen wäre – ganz gleich, ob in der Ödnis der Wüste oder auf den Straßen von Kairo.
    Immerhin war sie nur ein mittelloses Mädchen, das in seinem Leben noch keine Schule besucht und in keinem ehrbaren Haushalt gelebt hatte. Und, so wurde getuschelt, kaum dass sie außer Hörweite war, man sah ihr die Herkunft ihrer Mutter eben doch an. Keine junge Frau konnte erwarten, unter diesen Umständen verheiratet zu werden. Wenn sie Glück hatte, würde ihr zu einer Stellung verholfen werden, die ihr eine gewisse Sicherheit und einst einen Lebensabend in bescheide nem Wohlstand versprach. Irgendeine ehrbare, nie dere Arbeit bei gütigen Menschen, die über ihre zahllosen Makel hinwegsehen würden. Jane hatte an den Stein in ihrer Hand gedacht und an den toten Skorpion, während beim Nachmittagstee über ihre Zukunftsaussichten debattiert wurde und die Tassen auf dem Tisch leise klirrten. Sie hatte sich an die tiefschwarze Nacht in der Wüste erinnert, an den glühenden Brocken Weihrauchharz im Lagerfeuer und an die großen, vernarbten Hände ihres Vaters.

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