Wainwood House - Rachels Geheimnis
erwähnen Sie es seiner Lordschaft gegenüber nicht!«, wies Julian ihn an, gerade so als ob der zweite Hausdiener in einem regen Austausch mit dem Earl of Derrington stehen würde. »Genau wie mein geschätzter Vormund habe ich auch eine sehr besorgte Tante. Sie hat mir in den letzten Jah ren mehrere solcher Präsentkörbe in die Schule ge schickt.«
Im Internat hatten diese üppigen Geschenke noch ihre Vorteile gehabt. Obwohl es an dem Schulessen für gehobene junge Herren nicht das Geringste auszusetzen gab, war es für Julians Beliebtheit enorm förderlich gewesen, die Pasteten seiner Tante mit den übrigen Jungen zu teilen. Es war unter den adeligen Sprösslingen ein offenes Geheimnis gewesen, dass Julian keinen hochwohlgeborenen Vater hatte, und er hatte hart daran gearbeitet, dieses Manko in den Augen seiner Mitschüler auszumerzen. Nun allerdings wusste er mit den kulinarischen Schätzen seiner Tante wenig anzufangen. Es gab auf Wainwood jeden Tag vier Mahlzeiten, die kleinen Appetithappen, die er sich jederzeit aus der Küche kommen lassen konnte, nicht mitgerechnet.
»Vielleicht haben Sie Appetit auf einen späten Mitternachtsimbiss, Sir?«, erkundigte sich Samuel zuvorkommend. »Ich könnte Teller und Besteck aus der Küche holen.«
Julian blinzelte zwischen Verärgerung und Belustigung schwankend zu ihm hinüber. Er war sich nahezu sicher, dass der Hausdiener sich gerade auf seine Kosten einen Scherz erlaubte, auch wenn Samuels Miene selbstredend vollkommen regungslos blieb.
»Danke, das wird nicht nötig sein«, erklärte Julian und hatte im selben Moment eine famose Idee. Auf der Schule hatte er die Köstlichkeiten gemeinsam mit seinen Freunden nachts auf einer heimlich abgehaltenen Party vertilgt. Oder sie hatten sich hinausgeschlichen und ein Picknick im nächtlichen Schulpark veranstaltet. Diese Tradition, fand Julian, war ausbaufähig, und alles, was er jetzt brauchte, war ein neuer Verbündeter. »Allerdings werden Sie mir bei der Vernichtung der Delikatessen helfen müssen«, fügte Julian deshalb hinzu, ohne eine Miene zu verziehen. Er deutete einladend auf den Sessel, in dem Samuel gerade noch geschlafen hatte. Zu seiner Befriedigung sah der zweite Hausdiener ihn voller Verwunderung an, wie ein Karpfen, der soeben ins Boot eines Anglers gezogen worden war.
»Das wird kaum möglich sein!«, brachte Sam verwirrt hervor.
Julian deutete unnachgiebig auf den Sessel. »Betrachten Sie es als die Erfüllung Ihrer Pflicht. Sie wollen doch nicht schuld daran sein, dass ich mir den Magen verderbe, weil ich all das allein aufessen muss!« Er sah Samuel mahnend an. »Wirklich, ich dachte, mein Wohlergehen liegt Ihnen am Herzen.«
Einen Moment lang stand Sam unschlüssig in der Tür, dann ging ein Ruck durch seinen schlanken Körper, entschlossen durchquerte er den Raum und nahm in dem Sessel Platz. Julian hatte nicht den Eindruck, dass er sich besonders behaglich fühlte, doch das konnte er wohl auch nicht erwarten. Beflügelt von dem Gedanken, in dieser Nacht noch ein paar weitere altehrwürdige Sitten über Bord zu werfen, begann er in dem Korb herumzuwühlen.
»Teller …?«, brachte Samuel im Sessel hervor. Er schien es nur mit äußerster Mühe auf seinem Sitz auszuhalten.
»Brauchen wir nicht! Und wagen Sie es nicht aufzustehen!«, beschied ihm Julian. Dann hatte er gefunden, wonach er suchte. Er hielt Sam triumphierend ein Törtchen und eine Schale mit Creme entgegen. »Da, versuchen Sie!« Julian konnte weder verhindern, dass sich ein breites Grinsen auf seinem Gesicht ausbreitete, noch, dass Samuel ihn wie einen gefährlichen Geisteskranken ansah. Dennoch griff der Hausdiener gehorsam nach beidem und biss ein Stück von dem Kuchen ab.
»Sie müssen es in die Creme tunken«, erklärte Julian ihm ernsthaft.
Wiederum gehorchte Sam. Bei den nächsten Bissen begann er langsamer zu kauen. Sein angespannter Gesichtsausdruck verflüchtigte sich. Zum ersten Mal seit er schlafend im Sessel ertappt worden war, sah er nicht mehr wie ein farbloser Hausdiener aus, sondern wie ein achtzehnjähriger Junge.
»Gut, nicht?«, wollte Julian wissen. Er fühlte sich wieder wie der verwaiste Schüler, der um die Zuneigung seiner vornehmen Kameraden buhlte.
»Himmlisch«, brachte Samuel mit vollem Mund hervor. Ihm klebte ein Klecks Vanillecreme am Kinn und Krümel an den Fingern.
»Warten Sie, bis wir bei der Feigenmarmelade angekommen sind«, prophezeite Julian. Er setzte sich auf einen Stuhl und stellte den
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