Wainwood House - Rachels Geheimnis
weit weniger als ihren Ziehbruder. »Vierzig Jahre sind eine ewig lange Zeit, Jules«, gab sie zu bedenken.
Er ließ das Buch sinken. »Es sei denn, du willst im Grunde gar nicht weiter nachforschen, weil es ja nicht mehr als eine Vermutung von dir ist und uns im Grunde beide auch nichts angeht.« Sein Gesicht blieb unbewegt bei diesen Worten. Er hatte das Buch zugeschlagen und nur sein Zeigefinger markierte die Stelle zwischen den Seiten, an der er stehen geblieben war. Julian konnte sehr erwachsen und sehr vernünftig wirken, beinahe schon wie der ehrenwerte Gentleman, der er eines Tages sein würde. In solchen Momenten fragte Penelope sich, ob er tatsächlich bald zur Armee gehen oder sich für die Arbeit eines Geistlichen entscheiden würde.
»Ach, sei still«, fauchte sie ihn an. Als habe er nur auf diese Antwort gewartet, teilte ein triumphierendes Grinsen sein Gesicht. »Wir könnten zur Kirche hinüber gehen, sobald Tante Mildred fort ist«, schlug sie vor. »Es wird sehr viel weniger auffällig sein, wenn du mich begleitest und auf mich achtgibst.«
Wie um die Notwendigkeit zu unterstreichen, dass sie Schutz vor der Unbill der Welt benötigte, klimperte Penelope liebreizend mit ihren Wimpern. Der Effekt wurde ein wenig dadurch zerstört, dass ihr noch immer die mottenzerfressene Wolldecke wie ein Umhang von den Schultern hing und sich mehrere Strähnen aus dem ordentlichen Zopf gelöst hatten, den Hanna ihr für die Nacht geflochten hatte.
»Und du willst nicht lieber deinen Bogen anstatt mich zu deinem Schutz?«, neckte Julian sie. Penny streckte ihm die Zunge raus, mit dem ungeheuer befreienden Gefühl, sich kein bisschen wie eine Dame zu verhalten, nicht einmal im Entferntesten. Julian nickte bestätigend, als hätte er nicht weniger als solche Unvernunft von ihr erwartet. Bereits im Gehen hielt er Rachels Buch in die Höhe.
»Das würde ich gerne mitnehmen. Vielleicht finde ich noch etwas Interessantes darin.« Er las seinen Frack von dem alten Koffer auf. Das Weinglas blieb verwaist auf der Fensterbank zurück. »Lese nicht mehr so lange, Augenringe zieren eine Dame nicht.« Der alte Kricketball, den Penelope ihm nachwarf, traf nur noch die hinter ihm ins Schloss fallende Tür.
Die gelöste Stimmung, in die Julian das Treffen mit Pence versetzt hatte, trug ihn leichtfüßig die zahllosen Stufen hinab. Er wusste, dass das Mädchen jetzt noch für Stunden im Glockenturm bleiben würde, bis zum Hals in die muffelnde Decke gehüllt, um so lange im Kerzenschein zu lesen, bis ihr die Augen zufielen. Es rettete ihn jeden Tag aufs Neue, wenn er sie beim Frühstück damit aufziehen konnte, dass sie schlaftrunken auf ihren Teller starrte, während Bo maunzend um ihren Fisch bettelte. Und doch reichten die alltäglichen Kabbeleien und gemeinsamen Geheimnisse längst nicht mehr aus, um ihm das Gefühl zu geben, auf Wainwood willkommen zu sein. Je tiefer Julian auf seinem Weg in das nachtschlafende Haus vordrang, desto deutlicher spürte er die erhabene Atmosphäre des Herrensitzes. Jene Aura, die nur in Jahrhunderten der Herrschaft und des Reichtums wachsen konnte wie ein unsichtbarer Panzer aus Drachenschuppen. Sie umgab das massive Holz der polierten Möbel und die alten Steine so machtvoll, dass es ihm bei seiner Ankunft im Alter von sieben Jahren vollständig die Sprache verschlagen hatte. Damals hatte er sich tagelang geweigert, auch nur einen Ton zu sagen, und immer wieder neue Verstecke in den Zimmerfluchten gefunden, in denen er sich vor seiner neuen Familie verbergen konnte. Am Ende war es Penelope gewesen, die ihn in einem Geräteschuppen hinter den Gemüsegärten ausfindig gemacht und ihm die ersten Worte entlockt hatte. Sie betonte immer wieder, dass es der rote Kater der Köchin gewesen war, der ihr den Weg gewiesen hatte. Am selben Tag adoptierte sie Julian und Bonifacius gleichermaßen.
Auf der Empore über der Eingangshalle hielt Julian kurz inne, doch das Geräusch, das ihn aufhorchen ließ, war nur das Knarren und Ächzen gewesen, das tagtäglich in dem jahrhundertealten Gemäuer zu hören war. Geradeso als würde das Haus wie ein gewaltiger Organismus atmen, Rohre statt Venen haben und ein kraftvoll schlagendes Herz, das die Dienstboten antrieb, die Mauern aufrecht hielt und seinen Feinden den Zutritt verwehrte.
Auf der anderen Seite der Empore glühten Julian ein paar leuchtend gelbe Katzenaugen entgegen, doch anders als vor über zehn Jahren verriet der Kater ihn heute Nacht nicht, und
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